»Ich muss mir diesen Ort unbedingt ansehen. Können wir jetzt sofort aufbrechen?«
»Er liegt hoch oben in den Bergen – mehrere Tagesmärsche von hier. Wenn Ihr wollt, können wir morgen früh aufbrechen.«
Zedd dachte darüber nach. »Nein, ich glaube, ich möchte lieber allein gehen.«
Franca wirkte gekränkt. Aber wenn es das war, was er vermutete, wollte er sie nicht in der Nähe haben. Außerdem kannte er diese Frau eigentlich kaum und war nicht sicher, ob er ihr trauen konnte.
»Seht doch, Franca, es könnte gefährlich sein, und wenn Euch etwas zustieße, würde ich mir das nie verzeihen. Ihr habt mir bereits selbstlos Eure Zeit und Mühe geopfert – und genug riskiert.«
Danach schien sich Franca besser zu fühlen. »Ich schätze, jemand wird Vedetta ausrichten müssen, dass Ihr morgen nicht zum Abendessen kommen könnt. Sie wird enttäuscht sein.« Franca musste schmunzeln. »Ich an ihrer Stelle wäre es jedenfalls.«
48
Zedd ächzte unter dem Gewicht, als er den Sattel von Spinne heruntergleiten ließ. Allmählich wurde er zu alt für diese Dinge, entschied er. Die Ironie des Gedankens ließ ihn schmunzeln.
Er warf den Sattel über einen umgestürzten Baumstamm, um ihn nicht auf den Boden legen zu müssen. Spinne überließ ihm mit Freuden das übrige Zaumzeug, das Zedd über den Sattel legte. Anschließend deckte er alles mit der Satteldecke zu.
Der Baumstamm mit der Ausrüstung lehnte am Stamm einer alten Fichte, daher war er vor den Unbilden des Wetters geschützt, jedenfalls bis zu einem gewissen Maße. Er häufte Kiefernzweige über das Zaumzeug, die er ineinander verflocht und gegen den Stamm der Fichte lehnte, damit die Ausrüstung so trocken wie möglich blieb, denn er zweifelte nicht daran, dass der Nieselregen bald in Regen übergehen würde.
Spinne, aus ihrer Pflicht entlassen, graste ganz in der Nähe, hielt jedoch ein Auge und Ohr auf ihn gerichtet. Der dreitägige Ritt über den Fluss Drun und hinauf in die Berge war beschwerlich gewesen. Mehr für ihn als für das Pferd; das Pferd war nicht alt. Als er sah, dass Spinne glücklich und zufrieden war, wandte Zedd sich seinem eigenen Vorhaben zu.
Ein kleines, aus einem halben Dutzend Fichten bestehendes Gehölz versperrte ihm den Blick auf sein Ziel. Forschen Schritts ging er am stillen Ufer um die Bäume herum. Unmittelbar hinter ihnen stieg er auf eine Felsnase, die aus dem Boden herausragte, beinahe so, als hätte dort jemand ein Podest errichten wollen. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Zedd hinaus auf den See.
Es war ein betörender Ort. Der Wald hinter ihm endete ein gutes Stück vom Ufer entfernt, als befürchtete er, diesem zu nahe zu kommen, sodass die einsame Höhe und der sachte Anstieg bis auf die wenigen tapferen Fichten frei von Bäumen war. Da und dort war die Halbinsel von Gestrüpp überwuchert, hauptsächlich jedoch sah man dichte Büschel unterschiedlicher Gräser, zwischen denen sich kleine blaue und rosa Wildblumen tummelten.
Rings um den Rest des tiefen Bergsees ragten steile Felswände in die Höhe. Falls dieses einsame und abgelegene Gewässer einen Namen hatte, so war er ihm unbekannt. Außer über diese eine Stelle am Ufer gab es keinen gangbaren Zugang.
Auf der anderen Seite und ein Stück weiter links erhoben sich, mit einer sehr steilen Alm in ihrer Mitte, die wild zerklüfteten Berge, die kaum mehr als ein paar dürren Bäumchen da und dort Gelegenheit boten, ihre zähen Wurzeln zu schlagen. Rechts davon versperrten dunkle Felsklippen den Blick, er wusste jedoch, dass dahinter weitere Berge folgten.
Auf der anderen Seeseite stürzte ein Wasserfall über den Rand einer vorstehenden Felswand. Unmittelbar vor ihm spiegelte sich dieses Bild der Ruhe im still daliegenden See.
Die eisigen, in den See hinabstürzenden Wassermassen stammten aus dem Hochland, aus jenem riesigen See weiter droben in der ungeschützten Ödnis, wo allein die Kriegervögel wachten. Sie bildeten einen Teil des Oberlaufs des Flusses Dammar, der wiederum in den Drun mündete. Dieses kalte, von einem Ort des Todes stammende Wasser mäanderte hinunter in das tiefer liegende Nareef-Tal und ermöglichte dort Leben.
Hinter dem Wasserfall befanden sich die Öfen.
In der Felswand hinter den herabstürzenden Wassermassen waren die Chimären dreitausend Jahre zuvor durch ein in die Unterwelt führendes Tor bestattet worden.
Und nun waren sie auf freiem Fuß.
Dort warteten sie auf die ihnen versprochene Seele.
Zedd bekam allein von der Vorstellung eine Gänsehaut wie von tausend Spinnen auf seinen Beinen.
Wie schon unzählige Male zuvor, so versuchte er auch jetzt wieder seine Gabe der Magie herbeizurufen. Er tat sein Möglichstes, sich einzureden, sie würde diesmal kommen. Er breitete die Arme aus, reckte sie, die Handflächen nach oben gedreht, gen Himmel, und bemühte sich, die Magie durch gutes Zureden herbeizulocken.
Der friedlich daliegende See sollte seine Magie nicht zu sehen bekommen. Stumm wartend nahmen die Berge sein Scheitern hin.
Zedd, der sich sehr allein und sehr alt fühlte, entfuhr ein stolzes, übermütiges Lachen. Er hatte es sich tausendmal anders vorgestellt.
Nie jedoch hatte er geglaubt, auf diese Weise zu sterben.
Deshalb hatte er Richard nicht sagen dürfen, dass es die Chimären selbst waren, die sich auf freiem Fuß befanden. Richard hätte Zedds Vorhaben, zu dem er keine Alternative sah, niemals gutgeheißen.
Zedd riss sich aus seinen alles erdrückenden, schwermütigen Gedanken und ließ den Blick über den See schweifen. Er musste mit den Gedanken bei der Sache bleiben, sonst konnte ihm leicht ein Fehler unterlaufen, und sein Opfer wäre vergeblich. Wenn er dies schon tat, dann wenigstens richtig. Eine gut gemachte Arbeit hatte etwas Befriedigendes, selbst eine Arbeit wie diese.
Während er geübten Auges die Szenerie musterte, offenbarte das anfangs so friedlich wirkende Wasser mehr. Im Wasser wimmelte es von unsichtbaren, in lauernden Schwärmen umherziehenden Wesen, die vor düsteren Absichten überzuschäumen schienen.
Im Wasser wimmelte es von Chimären des Todes.
Zedd sah wieder zum Wasserfall hinüber. Unmittelbar dahinter konnte er den dunklen Schlund der Höhle erkennen. Dort musste er hin, über das Wasser, über das von den Chimären geradezu aufgewühlte Wasser.
»Sentrosi!« Zedd breitete die Arme aus. »Ich bin gekommen, um dir aus freien Stücken die Seele anzubieten, nach der du trachtest. Was mir gehört, überlasse ich nun dir!«
Flammen umzüngelten die Wassersäule und verschlangen sie mit großen, dröhnend hervorschießenden Feuerwolken, die sich zuckend und peitschend aus jenem Ort, genannt ›die Öfen‹, hervorwälzten; die Glut des Feuers spiegelte sich orangefarben auf der Oberfläche des Sees. Der Wasserfall wurde für einen Augenblick in Dampf verwandelt. Tintenschwarzer Rauch türmte sich gemeinsam mit dem weißen Dampf empor und verdrehte sich zu einer unheimlichen Säule, die den Schlund des Todes markierte.
Dann erklang der helle Glockenschlag einer Chimäre, der in den Bergen widerhallte.
Sentrosi hatte geantwortet.
Die Antwort lautete: ja.
»Reechani!«, rief er zum Wasser vor ihm. »Vasi!«, rief er in die ihn umgebende Luft. »Lasst mich passieren, denn ich bin gekommen, um euch allen meine Seele zu überlassen.«
Das Wasser geriet wirbelnd und kreisend in Bewegung, als hätte sich ein Schwarm aus Fischen in Ufernähe vor ihm versammelt. Eher noch schien aber das Wasser selbst lebendig, hungrig, voller Gier. Zedd vermutete, dass es das auch war.
Die Luft ringsum schien sich zu verdichten, sie bedrängte ihn, schob ihn voran.
Das Wasser richtete sich auf und drehte sich gestikulierend zu den Öfen. Die Luft summte vom Klang der Chimären, zahllosen einzelnen Glockenschlägen gleich, die zusammen ein einziges, kristallklares Geräusch ergaben. Die Luft roch verbrannt.
Da es bereits zu regnen begonnen hatte, sah Zedd nicht ein, wieso es eine Rolle spielen sollte, wenn er noch nasser würde. Er trat hinaus ins Wasser.