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Schwester Alessandra führte einen Löffel Suppe an Anns Mund.

»Hier, probiert davon. Ich habe sie selbst gemacht.«

»Warum?«

»Weil ich dachte, Ihr würdet sie vielleicht mögen.«

»Langweilt es dich nicht schon, Schwester, Ameisen die Beine auszureißen?«

»Ts, ts, was habt Ihr doch für ein Gedächtnis, Prälatin. Das habe ich schon seit meiner Kindheit nicht mehr getan, damals, als ich in den Palast der Propheten kam. Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr es mir damals ausgeredet, als Ihr erkanntet, dass ich unglücklich war, weil ich von zu Hause fortgehen musste.

Also, nehmt schon eine Kostprobe. Bitte.«

Ann war ehrlich überrascht, das Wort ›bitte‹ aus dem Mund dieser Frau zu hören. Sie öffnete ihre Lippen für den Löffel. Essen tat weh, aber nicht essen schwächte sie. Vermutlich hätte sie die Nahrungsaufnahme verweigern oder sich etwas anderes ausdenken können, um sich umzubringen, doch sie hatte nun mal eine Mission und daher allen Grund, weiterzuleben.

»Nicht schlecht, Schwester Alessandra. Wirklich nicht übel.«

Schwester Alessandra lächelte sichtlich stolz. »Das sagte ich Euch doch. Hier, nehmt noch etwas.«

Ann aß mit Bedacht und versuchte das weiche Gemüse vorsichtig zu kauen, damit ihr der Kiefer nicht noch mehr schmerzte. Die zähen Fleischstücke schluckte sie einfach hinunter, ohne sie auch nur zu zerdrücken, um den langwierigen Heilungsprozess ihres Kiefers nicht zu gefährden.

»Sieht ganz so aus, als würdet Ihr an der Lippe eine Narbe zurückbehalten.«

»Meine Liebhaber werden über diese Verunstaltung meiner Schönheit überaus enttäuscht sein.«

Schwester Alessandra musste lachen; es war kein hartes oder zynisches Lachen, sondern ein fröhliches Lachen aufrichtiger Freude.

»Ihr konntet mich stets zum Lachen bringen, Prälatin.«

»Allerdings«, erwiderte Ann giftig, »deswegen ist mir auch so lange nicht aufgefallen, dass du dich auf die Seite des Bösen geschlagen hast. Ich dachte immer, meine kleine Alessandra, meine glückliche, kleine Alessandra würde sich nicht in das Zentrum der Gottlosigkeit ziehen lassen. So sehr war ich von deiner Liebe zum Licht überzeugt.«

Schwester Alessandras Lächeln wurde breiter. »Aber ich habe es geliebt, Prälatin.«

»Ach was«, höhnte Ann. »Du hast nur dich selbst geliebt.«

Ann zerdrückte behutsam mit der Zunge die festeren Stücke in der Suppe und begutachtete währenddessen das schmutzige kleine Zelt. Bei den Schwestern des Lichts hatte sie einen derartigen Krawall geschlagen, dass Jagang offenbar angeordnet hatte, sie in einem eigenen kleinen Zelt unterzubringen. Jeden Abend versenkte man einen langen Stahldorn im Erdboden, an den man sie kettete. Das Zelt wurde um sie herum errichtet.

Tagsüber, wenn man sich auf den Abmarsch vorbereitete, wurde sie in einen derben Holzverschlag geworfen, der mit einer von einem Bolzen oder einer Art Schloss verriegelten Haspe verschlossen wurde. Mit Bestimmtheit wusste sie das nicht, da sie sich stets im Innern des Verschlags befand, wenn sie angebracht oder abgenommen wurde. Dieser Verschlag wurde anschließend auf einen geschlossenen Karren ohne Fenster oder Belüftung geladen. Das wusste sie, weil sie durch einen Spalt, dort, wo der Deckel des Verschlags nicht ganz schloss, nach draußen spähen konnte.

Abends, nach dem Haltmachen, holte man sie gewöhnlich nach einer Weile heraus, und eine der Schwestern begleitete sie zur Latrine, bevor man sie am Erdboden festpflockte und ihr Zelt aufstellte. Überkam sie tagsüber ein dringendes Bedürfnis, konnte sie nicht viel dagegen machen. Entweder sie wartete oder eben nicht.

Bisweilen machte man sich gar nicht erst die Mühe, das Zelt aufzustellen, und kettete sie einfach wie einen Hund an den Dorn.

Mit der Zeit hatte Ann ihr Zelt schätzen gelernt und war froh, sobald man es um sie herum errichtete. Es war ihre ganz eigene Stätte der Zuflucht, wo sie ihre verkrampften Beine und Arme ausstrecken, sich hinlegen und beten konnte.

Ann schluckte den Mundvoll Suppe hinunter. »Und, hat Jagang dir befohlen, du sollst noch etwas anderes tun, außer mich zu füttern? Sollst du mich zu seinem oder deinem Vergnügen ein wenig grob behandeln?«

»Nein.« Schwester Alessandra seufzte. »Ich soll Euch nur füttern. Ich nehme an, er hat sich noch nicht entschieden, was er mit Euch machen will; bis es so weit ist, möchte er jedoch, dass man Euch am Leben hält, damit Ihr ihm eines Tages möglicherweise von Nutzen sein könnt.«

Ann sah zu, wie die Frau in der Suppenschale rührte. »Er kann nicht in deinen Verstand eindringen, weißt du. Jedenfalls nicht im Augenblick.«

Schwester Alessandra sah auf. »Wie kommt Ihr darauf?«

»Die Chimären sind auf freiem Fuß.«

Der Löffel verharrte reglos. »Das habe ich gehört.« Der Löffel nahm seine kreisende Bewegung wieder auf. »Gerüchte, weiter nichts.«

Ann rutschte hin und her und versuchte, auf dem unebenen Boden eine bequemere Stellung zu finden. In Anbetracht ihrer natürlichen Polster, fand sie, sollten ihr die Unebenheiten des Bodens eigentlich nicht so viel Verdruss bereiten.

»Ich wünschte, es wären nur Gerüchte. Warum, glaubst du, funktioniert deine Magie nicht?«

»Aber sie funktioniert doch.«

»Ich meinte deine Additive Magie.«

Die Frau senkte ihre braunen Augen. »Na ja, vermutlich, weil ich gar nicht versucht habe, sie anzuwenden, das ist alles. Wenn ich es versuchte, würde sie auch funktionieren, da bin ich ganz sicher.«

»Dann versuche es. Du wirst sehen, ich habe Recht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Seine Exzellenz erlaubt das nicht, es sei denn, er verlangt es ausdrücklich. Es ist … unklug, die Anweisungen seiner Exzellenz nicht aufs Genaueste zu befolgen.«

Ann beugte sich zu der Frau hinunter. »Die Chimären sind auf freiem Fuß, Alessandra. Die Magie ist versiegt. Um der Schöpfung willen, wieso, glaubst du, befinde ich mich wohl in dieser misslichen Lage? Meinst du nicht auch, ich hätte bei meiner Gefangennahme ein wenig Ärger gemacht, wenn ich Magie benutzen könnte?

Gebrauche deinen Verstand, Alessandra. Du bist nicht dumm, also tu auch nicht so.«

Wenn Alessandra eines nicht war, dann dumm. Wie eine kluge Frau den Versprechungen des Hüters zum Opfer fallen konnte, war Ann schleierhaft. Vermutlich fielen sogar intelligente Menschen auf Lügen herein.

Ann vermied die Anrede ›Schwester‹ nicht nur deshalb, weil es ein Ausdruck des Respekts war, sondern weil sie den Eindruck hatte, diese Frau, die sie seit über einem halben Jahrtausend kannte und mochte, auf diese Weise direkter und persönlicher ansprechen zu können. Die Anrede ›Schwester‹ schien lediglich an ihre Verbindung zu den ›Schwestern der Finsternis‹ zu appellieren.

»Jagang kann nicht in deinen Verstand eindringen, Alessandra. Seine Kraft als Traumwandler ist versiegt, genau wie meine Kraft nachgelassen hat.«

Schwester Alessandra betrachtete sie ohne erkennbare Regung.

»Vielleicht funktioniert seine Kraft in Verbindung mit oder durch unsere, und er kann nach wie vor in den Verstand der Schwestern der Finsternis eindringen.«

»Unfug. Jetzt denkst du wie eine Sklavin. Geh und verschwinde, wenn du wie eine Sklavin denkst – oder wie die Schwestern des Lichts, wie ich zu meiner Schande eingestehen muss.«

Die Frau schien weder gehen noch die Diskussion beenden zu wollen. »Ich glaube Euch nicht. Jagang ist allmächtig. Ganz sicher beobachtet er uns durch meine Augen – jetzt, während wir miteinander sprechen, und ich merke einfach gar nichts davon.«

Ann war gezwungen, den Löffel Suppe anzunehmen, der sich unvermittelt auf ihren Mund zubewegte. Behutsam kauend musterte sie das Gesicht der Frau.

»Du könntest ins Licht zurückkehren, Alessandra.«

»Was!« Das unverzüglich auftauchende verärgerte Blitzen in den Augen der Frau verflüchtigte sich zu einem amüsierten Grinsen. »Prälatin, Ihr habt den Verstand verloren.«