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»Hab ich das?«

Schwester Alessandra hielt Ann einen weiteren Löffel Suppe an die Lippen. »Ja. Ich bin meinem Herrn und Meister der Unterwelt verschworen. Ich diene dem Hüter. Esst jetzt endlich.«

Ann konnte nicht einmal schlucken, bevor der nächste Löffel kam. Sie aß ein weiteres halbes Dutzend, bevor sie wieder zu Wort kam.

»Alessandra, der Schöpfer wird dir vergeben. Die Liebe des Schöpfers ist allumfassend und seine Vergebung grenzenlos. Er würde dich wieder aufnehmen, du könntest zurückkommen ins Licht. Würde es dir nicht gefallen, in die liebevolle Umarmung des Schöpfers zurückzukehren?«

Völlig unerwartet verpasste Schwester Alessandra ihr eine Ohrfeige. Ann kippte auf die Seite. Die Frau lauerte finster blickend über ihr.

»Der Hüter ist mein Herr und Meister! Ihr werdet keine Lästerreden führen! Seine Exzellenz ist mein Herr und Meister in dieser Welt. In der nächsten habe ich dem Hüter ewige Treue geschworen. Ich werde mir nicht anhören, wie Ihr meinen Eid an den Herrn und Meister entweiht. Habt Ihr mich verstanden?«

Der Heilungsprozess in ihrem Kiefer, befürchtete Ann, war in diesem Augenblick zunichte gemacht worden. Sie hatte entsetzliche Schmerzen, Tränen traten ihr in die Augen. Schließlich packte Schwester Alessandra Anns schmutzverkrustetes Kleid bei den Schultern und zog sie hoch in eine aufrechte Stellung.

»Ich werde nicht zulassen, dass Ihr derartige Dinge sagt. Habt Ihr verstanden?«

Ann hielt den Mund. Sie befürchtete, einen weiteren Wutanfall auszulösen. Das Thema war offenkundig ebenso empfindlich wie ihr Kiefer.

Schwester Alessandra hob die Suppenschale auf. »Viel ist nicht übrig, Ihr solltet trotzdem fertig essen.«

Alessandra blickte unverwandt in die Schale, als beobachtete sie das Rühren des Löffels. »Dass ich Euch geschlagen habe, tut mir Leid.«

Ann nickte. »Ich vergebe dir, Alessandra.« Die Frau hob die Augen, in denen keine Spur von Zorn mehr zu erkennen war. »Bestimmt, Alessandra«, flüsterte Ann aufrichtig, während sie sich fragte, welch entsetzliche Gefühle in ihrer früheren Schülerin miteinander ringen mochten.

Abermals schlug sie die Augen nieder. »Es gibt nichts zu vergeben. Ich bin, was ich bin, und nichts wird daran etwas ändern. Ihr habt keine Ahnung, was ich getan habe, um eine Schwester der Finsternis zu werden.« Sie sah auf, einen kalten Ausdruck im Gesicht. »Ihr macht Euch nicht die geringste Vorstellung von der Kraft, die man mir im Gegenzug gewährt hat. Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen, Prälatin.«

Ann hätte sie um ein Haar gefragt, was es ihr genutzt hat, hütete jedoch ihre Zunge und aß schweigend den Rest der Suppe. Bei jedem Schlucken zuckte sie gequält zusammen. Der Löffel klimperte, als Alessandra ihn in die leere Schale fallen ließ.

»Das war sehr gut, Alessandra. Die beste Mahlzeit, die ich hatte seit … nun, seit ich hier bin. Wahrscheinlich seit Wochen.«

Schwester Alessandra nickte und stand auf. »Dann werde ich Euch auch morgen etwas bringen, vorausgesetzt, ich bin nicht zu beschäftigt.«

»Alessandra.« Die Frau wandte sich noch einmal um. Ann sah ihr in die Augen. »Könntest du mir noch etwas Gesellschaft leisten?«

»Warum?«

Ann lachte verbittert in sich hinein. »Jeden Tag steckt man mich in diesen Verschlag. Jeden Abend pflockt man mich in der Erde an. Es wäre nett, wenn jemand, den ich kenne, ein Weilchen bei mir säße, das ist alles.«

»Ich bin eine Schwester der Finsternis.«

Ann zuckte mit den Achseln. »Ich bin eine Schwester des Lichts. Trotzdem hast du mir Suppe gebracht.«

»Man hat es mir befohlen.«

»Ah. Das ist mehr Ehrlichkeit, als mir von den Schwestern des Lichts entgegengebracht wurde.« Ann wand sich aus einer Kettenschlaufe heraus und ließ sich, Schwester Alessandra den Rücken zuwendend, auf die Seite fallen. »Tut mir Leid, dass man dich behelligen musste, damit du mich versorgst. Vermutlich will Jagang, dass du für seine Soldaten jetzt wieder die Hure machst.«

Im Zelt war es vollkommen still. Draußen lachten, spielten und tranken Soldaten. Der Duft von geröstetem Fleisch wehte herein. Wenigstens knurrte Ann nicht vor Hunger der Magen. Die Suppe war gut gewesen.

In der Ferne hörte Ann den Schrei einer Frau. Der Schrei ging in glockenhelles Lachen über – zweifellos eine der Marketenderinnen. Manchmal waren diese Schreie der reinste Alptraum, und manchmal brach Ann bei diesen Lauten der Schweiß aus, wenn sie daran dachte, was diesen armen Frauen widerfuhr.

Schließlich ließ Schwester Alessandra sich abermals nieder. »Ich könnte Euch schon noch ein wenig Gesellschaft leisten.«

Ann wälzte sich herum. »Das würde mir gefallen, Alessandra. Das würde mir wirklich gefallen.«

Schwester Alessandra half ihr, sich aufzusetzen, anschließend hockten die beiden verlegen schweigend da und lauschten auf die Geräusche des Lagers.

»Jagangs Zelt«, meinte Ann schließlich. »Wie ich hörte, ist es ein tolles Ding. Ein ziemlich prachtvoller Anblick.«

»Ja, das ist wahr. Es gleicht einem Palast, den er jeden Abend errichten lässt. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich besonders gerne dorthin gehe.«

»Nein, nach meiner Begegnung mit dem Mann kann ich mir das auch kaum vorstellen. Weißt du, wohin wir marschieren?«

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Hierhin, dorthin, das macht für uns keinen Unterschied. Wir sind Sklaven im Dienste seiner Exzellenz.«

Das klang ein wenig nach Hoffnungslosigkeit, was Ann auf die Idee brachte, dieses Gefühl in Hoffnung umzuwandeln. »Du musst wissen, Alessandra, er kann nicht in meinen Verstand eindringen.«

Schwester Alessandra sah stirnrunzelnd auf, und Ann erklärte ihr, wie die Bande zu Lord Rahl jeden beschützten, der ihm die Treue geschworen hatte. Ann war darauf bedacht, es in Worten auszudrücken, aus denen hervorging, was es für sie und die anderen, die Richard die Treue geschworen hatten, ganz persönlich bedeutete, anstatt es wie ein Angebot klingen zu lassen. Die Frau hörte widerspruchslos zu.

»Also«, meinte Ann abschließend, »die Magie der Bande zu Richard als Lord Rahl ist zur Zeit außer Kraft, andererseits funktioniert aber auch Jagangs Magie nicht, daher bin ich trotzdem vor dem Traumwandler sicher.« Sie lachte amüsiert. »Es sei denn, er kommt hier ins Zelt spaziert.«

Schwester Alessandra lachte mit ihr.

Ann drehte ihre gefesselten Hände im Schoß und zog die Kette näher heran, sodass sie weit genug durchhing, um die Beine übereinander schlagen zu können.

»Wenn die Chimären irgendwann einmal zu deinem Herrn und Meister in die Unterwelt zurückkehren, werden auch Richards Bande wieder funktionieren, und ich werde, sobald er sie zurückerlangt, auch vor Jagangs Magie wieder geschützt sein. Das ist der einzige Trost, der mir in dieser ganzen Geschichte bleibt – das Wissen, dass mein Verstand vor Jagangs magischer Kraft sicher ist.«

Schwester Alessandra saß da und schwieg.

»Natürlich«, fügte Ann hinzu, »muss es für dich eine Erleichterung sein, dass Jagang nicht in deinem Verstand weilt, zumindest nicht im Augenblick.«

»Man weiß nicht, wann er sich dort befindet. Man fühlt sich überhaupt nicht anders. Außer … wenn er möchte, dass man es weiß.«

Als Ann darauf nichts erwiderte, strich sie den Schoß ihres Kleides glatt. »Aber ich denke, Ihr wisst nicht, was Ihr da redet, Prälatin. Der Traumwandler befindet sich in meinem Verstand, jetzt, in diesem Augenblick, und beobachtet uns.«

Sie sah auf und wartete, dass Ann widersprach. Stattdessen meinte Ann: »Denk einfach mal darüber nach, Alessandra. Denk einfach darüber nach.«

Alessandra nahm die Schale auf. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen.«

»Danke, dass du hier warst, Alessandra. Danke für die Suppe. Und vielen Dank, dass du dich zu mir gesetzt hast. Es war sehr schön, dich endlich einmal wieder zu sehen.«

Schwester Alessandra nickte und verließ gebückt das Zelt.