Richard sah sich nach Kahlan um. »Er hat nicht ganz Unrecht…«
»Kommt nicht in Frage«, fauchte Kahlan.
Noch immer hatte sich niemand gerührt, so ernsthaft waren sie mit der Zukunft ihres Landes beschäftigt, die in der Schwebe hing.
Richard ergriff Kahlans Arm und wandte sich kurz zu dem Minister um. »Wenn Ihr uns einen Augenblick entschuldigen würdet, es gibt da ein paar Dinge, die wir besprechen müssen.«
Richard zog Kahlan fort vom Tisch, nach hinten in die Nähe der Vorhänge hinter dem Serviertisch. Mit einem Blick aus dem Fenster vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war, und lauschte. Die Leute an der Ehrentafel sahen nicht etwa hin, sondern lehnten sich schweigend zurück und blickten in den Speisesaal voll essender, sich unterhaltender und lachender Menschen, die von dem Drama, das sich an der Ehrentafel abspielte, gar nichts mitbekommen hatten.
»Kahlan, ich wüsste nicht, wieso…«
»Nein. Nein, Richard, nein. Was gibt es an einem ›Nein‹ nicht zu verstehen?«
»Ich würde gern deine Begründung hören.«
Sie seufzte schwer, unnachgiebig. »Versteh doch, Richard, ich halte es einfach nicht für eine gute Idee. Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich halte es für eine entsetzliche Idee.«
»Also gut. Du weißt, Kahlan, in diesen Dingen bin ich auf deine Meinung angewiesen…«
»Dann nimm sie dir zu Herzen. Nein.«
Richard fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durchs Haar. Er sah sich erneut um. Niemand achtete auf sie.
»Was ich sagen wollte, ist Folgendes: Ich würde gern deine Gründe kennen lernen. Der Mann hat nicht ganz Unrecht. Wenn wir dem Volk die Möglichkeit eröffnen, sich unserem Kampf für die Freiheit aller anzuschließen, warum sollten wir ihm dann die Möglichkeit vorenthalten, sich freiwillig für unsere Seite zu entscheiden? Man sollte keinem Volk die Freiheit aufzwingen, wenn es nicht will.«
Kahlan drückte seinen Arm. »Ich kann dir einen Grund nennen, Richard. Ja, es klingt vernünftig. Ja, ich begreife auch den Sinn, der dahinter steckt. Ja, es wäre nur gerecht.«
Ihr Griff an seinem Arm wurde fester. »Aber die Gefühle in meinem Innern schreien ›nein‹. Ich muss mich in dieser Sache auf meinen Instinkt verlassen, Richard, genau wie du. Und der ist stark und unbeugsam. Tu es nicht, ich flehe dich an.«
Richard fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Er versuchte einen Grund zu finden, weshalb sie sich dem widersetzen sollten. Stattdessen fielen ihm nur immer mehr Gründe ein, weshalb eine Abstimmung Sinn ergäbe – und das nicht nur aus der einfachen Notwendigkeit heraus, dass die Anderier gegen die Imperiale Ordnung Partei ergriffen.
»Ich vertraue dir, Kahlan, wirklich. Du bist die Mutter Konfessor und hast ein ganzes Leben lang Erfahrungen und Wissen darüber gesammelt, wie man Menschen regiert. Ich bin nichts weiter als ein Waldführer. Trotzdem würde ich gern eine etwas bessere Begründung hören als ›mein Bauch sagt nein‹.«
»Eine bessere kann ich dir nicht nennen. Ich kenne diese Menschen und weiß, wie arrogant und unaufrichtig sie sind. Ich glaube nicht, dass Bertrand Chanboor sich auch nur im Geringsten um den Willen des Volkes schert. Nach allem, was ich über sie weiß, sind er und seine Gattin ausschließlich an sich selber interessiert. Irgendetwas ist einfach faul an dieser Geschichte.«
Richard strich ihr mit dem Finger über die Schläfe. »Ich liebe dich, Kahlan. Ich vertraue dir. Aber hier geht es um das Leben dieser Menschen. Und darüber wird nicht Bertrand Chanboor entscheiden – allein darum geht es. Wenn das, was wir anzubieten haben, richtig ist, warum sollte dann das anderische Volk nicht die Möglichkeit erhalten, sich selbst dafür zu entscheiden? Meinst du nicht, sie hätten dann mehr in die Sache investiert, als wenn ihre Anführer ihnen die Entscheidung abgenommen hätten?
Hältst du es für fair, wenn wir eine Veränderung ihrer Kultur verlangen, wenn wir ihnen weiszumachen versuchen, das sei genau das Richtige, und ihnen trotzdem die Freiheit verweigern, sich aus freien Stücken dafür zu entscheiden? Wieso können nur die Anführer für ein Volk entscheiden? Was ist, wenn der Minister sich Jagang anschließen möchte? Würdest du in diesem Fall nicht wollen, dass das Volk Gelegenheit erhielte, den Anführer zu stürzen und sich stattdessen für die Freiheit zu entscheiden?«
Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, sichtlich außerstande, ihre Vorbehalte und Enttäuschungen in Worte zu fassen. »Wie du es formulierst, Richard, klingt es – vernünftig, trotzdem … Ich weiß nicht, nach meinem Empfinden wäre es ein Fehler. Was ist, wenn sie betrügen? Was ist, wenn sie die Menschen einschüchtern – sie bedrohen? Wie sollen wir je davon erfahren? Wer soll ein ganzes Volk dabei im Auge behalten, wie es seinen Willen bekundet? Wer soll darüber wachen, dass es bei der Auszählung mit rechten Dingen zugeht?«
Richard strich mit dem Daumen über den seidenen Ärmel ihres weißen Konfessorenkleides. »Also schön. Angenommen, wir stellen Bedingungen. Bedingungen, die sicherstellen, dass wir die Fäden in den Händen halten und nicht sie.«
»Zum Beispiel?«
»Wir haben eintausend Soldaten hier, die wir in sämtliche Städte und Ortschaften Anderiths schicken könnten, damit sie die Stimmabgabe der Menschen überwachen. Jeder könnte ein Zeichen auf ein Stück Papier machen – sagen wir, einen Kreis für den Anschluss, ein Kreuz dagegen. Anschließend könnten unsere Soldaten diese Zettel in Gewahrsam nehmen und ihre Auszählung überwachen. Damit würden sie sicherstellen, dass es gerecht zugeht.«
»Und woher sollen die Menschen wissen, worum es überhaupt geht, wie immer sie sich entscheiden?«
»Das werden wir ihnen erklären müssen. So groß ist Anderith nicht. Wir könnten die einzelnen Orte aufsuchen und den Menschen dort erklären, warum sie sich uns anschließen müssen – warum es für sie so wichtig ist und wie sie zu leiden hätten, sollten sie stattdessen in die Fänge der Imperialen Ordnung geraten. Falls die Wahrheit wirklich auf unserer Seite steht, sollte es nicht übermäßig schwierig sein, die Menschen dazu zu bringen, das zu erkennen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. »Wie lange soll das gehen? Berichten der Späher zufolge wird die Imperiale Ordnung in weniger als sechs Wochen so nahe sein, dass sie angreifen kann.«
»Dann sagen wir eben vier. Vier Wochen, dann stimmen die Menschen ab. Damit hätten wir mehr als genug Zeit, umherzuziehen, zu den Menschen zu sprechen und ihnen zu erklären, wie wichtig diese Angelegenheit ist. Wenn sie dann dem Anschluss an uns zugestimmt haben, bliebe uns genügend Zeit, die Armee hierher zu holen und Jagang mit Hilfe der Dominie Dirtch zu stoppen.«
Kahlan legte sich eine Hand auf den Bauch. »Das gefällt mir nicht, Richard.«
Er zuckte mit den Achseln. »Also gut. General Reibischs Armee befindet sich auf dem Weg hierher. Er wird vor Jagang hier eintreffen. Wir haben ihm aufgetragen, sich nördlich zu halten, außer Sichtweite, aber ebenso könnten wir mit unseren Männern die Dominie Dirtch einnehmen und die hiesige Regierung stürzen.
Nach allem, was ich von ihrer Armee gesehen habe, würde das nicht lange dauern.«
»Ich weiß«, sagte Kahlan, nachdenklich die Stirn runzelnd. »Eines verstehe ich nicht. Ich war doch früher bereits einmal hier, da war die anderische Armee eine gewaltige Streitmacht. Aber diese Soldaten, die wir gesehen haben, schienen kaum mehr als – Kinder zu sein.«
Richard sah aus dem Fenster. Wegen der vielen hell erleuchteten Fenster wurden die Parkanlagen so angestrahlt, dass man ihre Pracht unschwer erkennen konnte. Es schien ein friedlicher Ort zum Leben.
»Schlecht ausgebildete Kinder«, meinte er. »Ich verstehe das auch nicht. Außer, als die Soldatin an der Grenze meinte, man benötige nur einen Soldaten, um die Dominie Dirtch anzuschlagen. Vielleicht haben sie es nicht nötig, ihr Vermögen für den Unterhalt einer Armee auszugeben, wenn sie an der Grenze nur ein paar Soldaten zur Bemannung der Dominie Dirtch brauchen. Schließlich weißt du ebenso gut wie jeder andere, welch ungeheuren Geldmittel für den Unterhalt einer angemessenen Streitmacht aufgebracht werden müssen. Tag für Tag muss sie mit Lebensmitteln versorgt werden. Aus diesem Grund kommt Jagang doch überhaupt her. Vielleicht braucht Anderith seine Geldmittel gar nicht auszuschöpfen.«