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»Möglich.« Bertrand stellte den Becher fort. »Doch bis dahin hat die Imperiale Ordnung die Dominie Dirtch bereits eingenommen, und für Lord Rahl ist es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Er und die Mutter Konfessor werden auf sich gestellt sein, ohne auf Verstärkung hoffen zu können.«

»Er und die Mutter Konfessor werden in Anderith in der Falle sitzen…« Endlich lächelte auch sie und ballte ihre krallenbewehrten Finger zu einer Faust. »Und Jagang wird sie in seine Gewalt bekommen.«

Bertrand feixte. »Und uns dafür belohnen.« Er wandte sich zu Dalton. »Wo wurden die d’Haranischen Truppen einquartiert?«

»Zwischen hier und Fairfield.«

»Gut. Sorgt dafür, dass Lord Rahl und die Mutter Konfessor alles bekommen, was immer sie auch begehren. Sie sollen tun und lassen können, was immer ihnen beliebt. Wir müssen uns überaus entgegenkommend zeigen.«

Dalton nickte. »Sie haben den Wunsch geäußert, die Bibliothek aufzusuchen.«

Bertrand griff abermals nach seinem Becher. »Wunderbar. Stellt sie ihnen zur freien Verfügung – findet heraus, was sie wollen. Es gibt in der Bibliothek nichts, das ihnen irgendwie von Nutzen sein könnte.«

Richard drehte sich nach dem Lärm um.

»Verschwinde!«, schrie Vedetta Firkin. Die alte Frau fuchtelte mit den Armen und fügte der bereits geäußerten verbalen Drohung eine handgreifliche hinzu. »Verschwinde, du Dieb!«

Der Rabe draußen auf dem vor dem Fenstersims angebrachten Brett sprang hin und her, flatterte mit den Flügeln und bekundete lauthals sein Missfallen über sie. Sie sah sich um und schnappte sich einen Stock, der griffbereit an der Wand lehnte, um das Fenster daneben abzustützen, wenn es geöffnet war. Den Stock wie ein Schwert schwingend, lehnte sie sich aus dem offenen Fenster und schlug nach dem Raben. Mit ausgebreiteten Flügeln, das Halsgefieder zerzaust, die Federn auf dem Kopf wie Hörner aufgestellt, wich er hüpfend zurück und kreischte sie an.

Sie schlug erneut nach dem großen schwarzen Vogel. Diesmal unternahm der Rabe einen strategischen Rückzug auf einen nahen Ast. Aus dieser gesicherten Stellung heraus ließ er eine heftige Schimpfkanonade vom Stapel. Sie schlug das Fenster zu.

Vedetta Firkin drehte sich um, stellte den Stock an seinen Platz zurück und wischte sich triumphierend die Hände ab. Erhobenen Hauptes wandte sie sich wieder menschlichen Belangen zu.

Richard und Kahlan hatten beim Betreten der Bibliothek mit ihr gesprochen, um ihr die Befangenheit zu nehmen. Richard hatte sich lieber ihrer Zusammenarbeit versichern wollen, statt sie auf den Gedanken zu bringen, es sei womöglich ihre Pflicht, irgendwelche Bücher vor ihnen zu verstecken. Sie hatte auf die zwanglose, freundliche Art der beiden sehr vielversprechend reagiert.

»Verzeiht«, raunte sie mit gesenkter Stimme, als wollte sie ihr Geschrei wieder gutmachen. Sie näherte sich Richard und Kahlan mit trippelnden Schritten. »Ich habe das Brett am Fenstersims angebracht und Körner für die Vögel darauf gestreut, aber ständig kommen diese widerwärtigen Raben und fressen die Körner weg.«

»Raben sind auch Vögel«, meinte Richard.

Die Frau richtete sich leicht verwirrt auf. »Ja, aber – es sind halt Raben. Die reinste Plage. Erst stehlen sie sämtliche Körner, und dann kommen die süßen kleinen Singvögel nicht mehr. Dabei liebe ich Singvögel so sehr.«

»Verstehe«, meinte Richard lächelnd, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte.

»Jedenfalls, Lord Rahl, Mutter Konfessor, die Störung tut mir Leid. Ich wollte nur nicht, dass diese krakeelenden Raben Euch behelligen, wie sie es ganz bestimmt getan hätten. Am besten verscheucht man sie sofort. Ich werde von jetzt an dafür sorgen, dass Ihr Eure Ruhe habt.«

Kahlan hob den Kopf und blickte die Frau lächelnd an. »Vielen Dank, Madame Firkin.«

Sie wollte sich schon umdrehen, als sie kurz zögerte. »Verzeiht, dass ich das sage, Lord Rahl, aber Ihr habt ein wundervolles Lächeln. Es erinnert mich so sehr an das Lächeln eines Freundes.«

»Tatsächlich? Wer ist es denn?«, fragte Richard gedankenverloren.

»Ruben…« Sie wurde rot. »Er ist ein ehrenwerter Freund.«

Richard zeigte ihr das Lächeln, das ihr so sehr gefiel. »Ihr habt ihm bestimmt allen Grund gegeben, Euch anzulächeln, Madame Firkin.«

»Ruben«, murmelte Kahlan kaum hörbar, als die Frau schon gehen wollte. »Das erinnert mich an Zedd. Diesen Namen hat er früher gelegentlich benutzt.«

Richard seufzte, als er voller Sehnsucht an seinen verschollenen Großvater dachte. »Ich wünschte, der alte Mann wäre jetzt hier«, meinte er leise zu Kahlan.

»Wenn Ihr etwas braucht«, sagte Vedetta Firkin über ihre Schulter, während sie sich schlurfend entfernte, »zögert bitte nicht, danach zu fragen. Ich kenne mich mit der Kultur Anderiths, mit unserer Geschichte, ziemlich gut aus.«

»Ja, vielen Dank«, rief Richard der Frau hinterher und nutzte die Gelegenheit, als sie ihnen den Rücken zukehrte, Kahlans Bein unter dem Tisch vertraut zu drücken.

»Richard«, sagte Kahlan, »konzentriere dich auf die Arbeit.«

Richard tätschelte ihr besänftigend den Schenkel. Ohne ihre süße Wärme so dicht neben sich fiele es ihm leichter, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Er klappte das Buch zu und zog ein anderes heran, schlug den alten Band mit dem städtischen Register auf und überflog ihn auf der Suche nach irgend etwas, was entfernt brauchbar aussah.

Sie hatten nicht gerade eine Fülle von Informationen gefunden, aber trotzdem genug entdeckt, um ein paar Fakten zusammenzustellen, die sich vielleicht als nützlich erweisen würden. Wie sich herausstellte, lohnte die Bibliothek zweifellos seine Mühe, denn allmählich entwickelte er ein anfangs nicht vorhandenes Gespür für diesen Ort. Es handelte sich tatsächlich um eine Bibliothek der Kultur. Richard bezweifelte, dass viele Menschen aufgrund ihrer Geisteshaltung und erklärten Überzeugungen auch nur eine verschwommene Vorstellung von der unverständlichen Geschichte direkt vor ihrer Nase hatten, die sich unmittelbar vor ihren Augen verbarg.

Er gelangte zunehmend zu der Erkenntnis, dass ein großer Teil des alten Anderith vor der Zeit der Hakenier von einer Führung profitierte, die die Entwicklung der Bevölkerung damals in den Schatten stellte. Jemand hatte seine schützende Hand über sie gehalten.

Anhand alter Lieder und Gebete, deren Niederschrift er gefunden hatte, sowie späterer Berichte über die Ehrfurcht, mit dem man diesem sorgsam wachenden Schutzherrn begegnete, vermutete Richard, dass es sich um die Handschrift Joseph Anders handelte. Eine solche Bewunderung würde zu Kolos Beschreibung dieses Mannes passen. Viele dieser wundersamen Unterweisungen waren möglicherweise das Werk eines Zauberers, wie Richard erkannte. Nach Anders Ableben glichen die Menschen Waisenkindern, die ohne den Beistand der Idole, die sie nach wie vor verehrten, die ihnen jedoch nicht mehr antworteten, verloren waren. Verwirrt und hilflos waren sie Kräften ausgeliefert, die sie nicht begriffen.

Richard lehnte sich zurück, räkelte sich und gähnte. Die alten Bücher erfüllten die Bibliothek mit einem muffigen Geruch; dieser war, ähnlich wie lange verborgene Geheimnisse, recht interessant, insgesamt jedoch nicht unbedingt angenehm. Nach einer Weile begann er sich nach der frischen, sonnendurchströmten Luft jenseits der Fenster ebenso zu sehnen wie nach einer Auflösung des lange verborgenen Rätsels.

Ganz in der Nähe hatte Du Chaillu es sich bequem gemacht, liebevoll mit der Hand ihr ungeborenes Baby streichelnd, während sie ein Buch mit verschlungenen Verzierungen auf vielen Seiten betrachtete. Dort gab es Zeichnungen kleiner Tiere: Frettchen, Wiesel, Wühlmäuse, Füchse und Ähnliches. Sie konnte nicht lesen, aber das Buch mit seinen Zeichnungen brachte sie immer wieder zum Schmunzeln. Etwas Vergleichbares hatte sie bislang nicht zu Gesicht bekommen. Richard konnte sich nicht erinnern, ihre dunklen Augen jemals derart funkeln gesehen zu haben. Sie strahlte wie ein kleines Kind.