Nicht weit entfernt saß Jiaan untätig herum. Zumindest erweckte der Meister der Klinge einen recht überzeugenden Anschein von Untätigkeit. Richard wusste, dass er nur deshalb unauffällig wirken wollte, weil er auf diese Weise alles beobachten konnte. Ein halbes Dutzend d’Haranischer Soldaten schlenderte durch den Saal. Auch anderische Gardisten gab es, an den Eingangstüren.
Einige der anderen Anwesenden hatten die Bibliothek augenblicklich verlassen, weil sie befürchteten, sie könnten die Mutter Konfessor und Lord Rahl stören. Einige wenige waren geblieben, Spione, wie Kahlan ihm gegenüber angedeutet hatte, die man geschickt hatte, um sie zu beobachten. Zu dieser Einschätzung war er mittlerweile ebenfalls gelangt.
Er traute dem Minister ebenso wenig wie Kahlan. Seit das Thema Anderith zum ersten Mal aufgekommen war, hatte ihre offenkundige Abneigung für dieses Land seine Betrachtungsweise einseitig beeinflusst. Der Minister für Kultur hatte nichts getan, um diesen Eindruck zu entkräften, was Kahlans Warnungen vor diesem Mann zusätzliches Gewicht verlieh.
»Hier«, sagte Richard, auf die Seite tippend. »Hier steht es wieder.«
Kahlan beugte sich herüber und warf einen Blick darauf. Sie machte ein Geräusch tief in ihrer Kehle, als sie den Namen erkannte: Westbrook.
»Der Eintrag hier bestätigt, was wir bereits früher gefunden haben«, erklärte Richard.
»Ich kenne den Ort. Es handelt sich um eine kleine Stadt. Soweit ich mich erinnere, ist dort nicht viel zu sehen.«
Richard hob den Arm und versuchte die Aufmerksamkeit der alten Frau auf sich zu lenken. Sie kam sofort herbeigeeilt.
»Ja, Lord Rahl? Kann ich Euch behilflich sein?«
»Madame Firkin, Ihr sagtet, Ihr wüsstet eine Menge über die Geschichte Anderiths.«
»O ja, das stimmt. Das ist mein Lieblingsthema.«
»Nun, ich bin an mehreren Stellen auf einen Ort namens Westbrook gestoßen. Dort heißt es, Joseph Ander habe früher dort gelebt.«
»Ja, das stimmt. Er liegt oben in den Ausläufern der Berge. Oberhalb des Nareef-Tales.«
Das hatte Kahlan ihm bereits erklärt, trotzdem war es gut zu wissen, dass die Frau sie weder zu täuschen versuchte, noch ihnen Informationen vorenthielt.
»Und gibt es dort noch irgendwas von ihm zu sehen? Dinge, die ihm gehört haben?«
Sie lächelte begeistert, offenkundig freute sie sich, dass er etwas über Joseph Ander wissen wollte, jenen Mann, der ihrem Land seinen Namen gegeben hatte. »Nun ja, es gibt dort eine kleine Gedenkstätte, die Joseph Ander gewidmet ist. Die Menschen können sich dort den Stuhl ansehen, den er damals benutzte, sowie ein paar andere kleine Gegenstände.
Das Haus, in dem er wohnte, ist erst vor kurzem niedergebrannt – es war ein entsetzliches Feuer –, einige der Gegenstände konnten jedoch gerettet werden, weil man sie für die Zeit der Reparaturarbeiten am Haus fortgeschafft hatte. Immer wieder drang Wasser ein und vernichtete Gegenstände. Der Wind riss Dachziegel heraus. Äste von Bäumen – es müssen wohl Äste gewesen sein – zerbrachen die Fenster, woraufhin der Wind ziemlich heftig hineinblies und Regen hineinwehte und alles durchnässte. Eine Menge seiner wertvollen Besitztümer ging auf diese Weise verloren. Anschließend brannte das Feuer – durch einen Blitz, wie die Leute glauben – das Haus bis auf die Grundmauern nieder.
Aber ein paar seiner Sachen wurden, wie ich schon sagte, gerettet, weil sie sich wegen der Reparaturarbeiten – vor dem Brand – nicht im Haus befanden. Und jetzt hat man diese Dinge ausgestellt, damit die Leute sie sich anschauen können. Sogar den Stuhl, auf dem er damals gesessen hat.«
Sie beugte sich herunter. »Und, was am interessantesten für mich war, auch einige seiner Schriften sind unversehrt geblieben.«
Richard setzte sich gerader hin. »Schriften?«
Sie nickte mit ihrem grauen Kopf. »Ich hab sie alle gelesen. Ist nichts wirklich Wichtiges dabei. Nur seine Beobachtungen über die Berge in der Gegend, wo er lebte, über den Ort und über einige der Personen, die er kannte. Nichts Wichtiges, aber interessant ist es doch.«
»Verstehe.«
»Jedenfalls nicht so interessant wie die Dinge, die wir hier haben.«
Plötzlich war Richard ganz bei der Sache. »Was für Dinge?«
Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Wir haben einige seiner Schriften hier, in unserem Gewölbekeller. Sein Geschäftsverkehr mit anderen, seine Briefe, Bücher über seinen Glauben. Und Ähnliches.
Möchtet Ihr vielleicht einen Blick hineinwerfen?«
Richard tat sein Möglichstes, nicht interessiert zu wirken. Diese Leute sollten nicht wissen, wonach er suchte; deswegen hatte er sich zu Beginn nach nichts Bestimmtem erkundigt.
»Ja, das wäre durchaus interessant. Ich habe mich immer schon für – Geschichte interessiert. Ich würde gern einige seiner Schriften einsehen.«
Gleichzeitig mit Vedetta Firkin bemerkte er, wie jemand die Treppe herunterkam. Es war eine Art Bote – Richard hatte eine ganze Reihe von ihnen gesehen, alle gleich gekleidet. Der rothaarige Mann sah Madame Firkin mit Richard und Kahlan sprechen, daher blieb er mit leicht gespreizten Beinen stehen, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und wartete in einiger Entfernung.
Richard wollte vor den Augen eines Boten nicht über die Werke Joseph Anders sprechen, also deutete er mit einer Handbewegung auf den Mann. »Warum fragt Ihr nicht, was er will?«
Vedetta Firkin bedankte sich mit einem Nicken für sein Entgegenkommen. »Entschuldigt mich einen Augenblick.«
Kahlan schloss ihr Buch und legte es auf die anderen, die sie bereits durchgesehen hatte. »Wir müssen aufbrechen, Richard. Du weißt, das Treffen mit den Direktoren und einigen anderen Leuten. Wir können doch anschließend wieder hierher kommen.«
»Stimmt.« Er seufzte. »Wenigstens müssen wir nicht noch einmal mit dem Minister zusammentreffen. Noch eines dieser Festessen würde ich nicht überstehen.«
»Bestimmt ist er ebenso erfreut, dass wir seine Einladung ausgeschlagen haben. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber wir beide scheinen Feste stets zu verderben.«
Richard stimmte ihr zu und ging Du Chaillu holen. Madame Firkin kehrte gerade zurück, als Du Chaillu sich erhob.
»Ich würde Euch gern die Bücher heraussuchen und aus dem Gewölbekeller heraufholen, Lord Rahl, aber zuvor muss ich noch rasch eine Besorgung machen. Wenn Ihr vielleicht einen kleinen Augenblick warten könntet, es wird nicht lange dauern. Ihr werdet an Joseph Anders Schriften ganz sicher Eure Freude haben. Nicht viele Menschen erhalten Gelegenheit, sie zu sehen, aber so bedeutenden Persönlichkeiten wie Euch und der Mutter Konfessor würde ich…«
»Um die Wahrheit zu sagen, Madame Firkin, ich würde die Bücher sehr gerne sehen. Im Augenblick jedoch müssen wir zu einer Besprechung mit den Direktoren. Ich könnte allerdings nachher noch einmal herkommen, später am Nachmittag oder vielleicht heute Abend?«
»Das wäre perfekt«, erwiderte sie, sich grinsend die Hände reibend. »Dann habe ich Zeit, sie alle herauszusuchen und hervorzuholen. Ich werde sie für Euch bereithalten, wenn Ihr zurückkommt.«
»Habt vielen Dank. Die Mutter Konfessor und ich können es kaum erwarten, derart seltene Bücher zu sehen.«
Richard hielt inne und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Und, Madame Firkin, ich schlage vor, Ihr gebt dem Raben ein paar Körner. Der arme Kerl sieht aus, als wäre er völlig aus dem Häuschen.«
Sie drohte ihm scherzhaft mit den Fingern. »Wenn Ihr es sagt, Lord Rahl.«
Er erhob sich, als die alte Frau am Arm eines seiner Boten das Zimmer betrat.
»Danke, dass Ihr gekommen seid, Madame Firkin.«
»Du liebe Güte, Meister Campbell, was habt Ihr für ein prächtiges Büro.« Sie sah sich um, als sei sie daran interessiert, die Räumlichkeiten käuflich zu erwerben. »Ja, überaus prächtig, wahrhaftig.« Er befahl dem Boten mit einer leichten Kopfbewegung zu verschwinden; der Mann schloss hinter sich die Tür.
»Oh, seht doch«, sagte sie, die Hände wie zum Gebet unter dem Kinn aneinander gelegt. »Seht doch all die prächtigen Bücher. Ich wusste gar nicht, dass hier oben so viele prächtige Bände stehen.«