»Bist du sicher?«, fragte Morley.
»Ich gehe jedenfalls rein. Du kannst hier warten oder mitkommen. Liegt ganz bei dir.«
Morleys Augen sahen sich nach allen Seiten um, offenbar außerstande zu entscheiden, wo sie sich niederlassen wollten. »Schätze, ich werde dich begleiten.«
Drinnen ruhten zu beiden Seiten ungefähr kopfgroße Glaskugeln auf grünen Marmorpostamenten, armlosen Statuen gleich, die darauf zu warten schienen, die Besucher dieses riesigen Raumes voller kunstvoll verzierter Steinmetzarbeiten zu begrüßen. In der Mitte bildeten vier Säulen aus poliertem schwarzem Marmor mit einem Umfang von mindestens einer Pferdelänge ein Quadrat, das die Bögen am äußeren Rand einer zentralen Kuppel stützte.
Überall im gesamten Raum gab es schmiedeeiserne, mit Kerzen bestückte Wandleuchter, oben in der Kuppel jedoch ließ ein Ring aus Fenstern das Licht herein, sodass sie die Kerzen nicht anzuzünden brauchten. Snip kam sich vor wie an einem Ort, an dem der Schöpfer persönlich wohnen mochte. Ihm war, als müsste er auf die Knie fallen und beten.
Ein roter Teppich führte den Flügel entlang, in dem sie sich befanden. Zu beiden Seiten des Teppichs standen aufgereiht sechs Fuß hohe Postamente aus weißem Marmor, jedes einzelne zweifelsohne umfangreicher als Meister Drummonds Bauch. Auf jedem der Postamente standen verschiedenartige Gegenstände: Man sah hübsche Schalen, kunstvoll gearbeitete Goldketten, ein tintenschwarzes Fläschchen sowie andere, aus Wurzelholz geschnitzte Gegenstände. Aus einigen der Gegenstände wurde Snip nicht klug.
Den Gegenständen auf den Postamenten schenkte er keine große Beachtung, stattdessen schaute er quer durch den riesigen Raum zur anderen Seite der zentralen Kuppel hinüber. Dort erblickte er einen mit allen möglichen Dingen überhäuften Tisch, und dort schien – an den Tisch gelehnt – auch jener Gegenstand zu stehen, dessentwegen er hergekommen war.
Zwischen jedem golden überkrönten schwarzen Säulenpaar führte ein Seitenflügel aus dem riesigen zentralen Saal hinaus. Nach links blickte man in eine unaufgeräumte Bibliothek mit über den gesamten Fußboden verteilten Stößen übereinander gestapelter Bücher, der Flügel rechts lag im Dunkeln.
Snip schritt über den roten Teppich. An dessen Ende führte nahezu ein Dutzend breiter Stufen hinunter auf den abgesenkten Fußboden aus cremefarbenem Marmor im Zentrum der Enklave des Obersten Zauberers, unterhalb der Kuppel. Auf der anderen Seite sprang er, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf zu dem unmittelbar vor einem hohen Bogenfenster stehenden Tisch.
Der gesamte Tisch war mit einem Wirrwarr von Dingen überhäuft: Schalen, Kerzen, Schriftrollen, Bücher, Krüge, Kugeln, Quadrate und Dreiecke aus Metall – sogar ein Schädel war darunter. Andere, größere Gegenstände standen über den Fußboden verteilt herum.
Morley wollte nach dem Schädel greifen, doch Snip schlug seine Hand weg.
»Fass bloß nichts an.« Snip deutete auf den Schädel, der ihnen entgegenstarrte. »Das könnte der Schädel eines Zauberers sein, und wenn du ihn anfasst, erwacht er womöglich wieder zum Leben. Zauberer können das, musst du wissen.«
Morley zog seine Hand zurück.
Mit zitternden Fingern langte Snip schließlich nach unten und nahm jenen Gegenstand in die Hand, von dem er bislang stets nur hatte träumen können. Es sah genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Gold- und Silberarbeiten waren die prächtigsten, die Snip je zu Gesicht bekommen hatte, und auf dem Anwesen des Ministers hatte er eine Menge prachtvoller Gold- und Silberarbeiten gesehen. Kein Anderier besaß etwas, das an die Schönheit dieses Gegenstandes heranreichte.
»Ist es das?«, fragte Morley.
Snip fuhr mit den Fingern über die erhabenen Buchstaben auf dem Heft. Dort stand das einzige Wort, das er lesen konnte.
»Ja, das ist es. Das Schwert der Wahrheit.«
Snip hatte das Gefühl, auf der Stelle festzuwachsen, als er die herrliche Waffe in Händen hielt, die Finger über das mit Draht umwickelte Heft gleiten ließ, über den nach unten gebogenen Handschutz, die prunkvoll gearbeitete goldene und silberne Scheide. Selbst der lederne Waffengurt war wunderbar gearbeitet und fühlte sich zwischen Daumen und Zeigefinger butterweich an.
»Nun, wenn du das mitnimmst«, meinte Morley, »was meinst du, kann ich dann mitnehmen?«
»Gar nichts«, war eine Stimme in ihrem Rücken zu vernehmen.
Die beiden zuckten zusammen und schrien wie aus einem Munde auf; wie ein Mann wirbelten sie herum.
Fassungslos starrten die beiden auf das, was sie sahen. Sie trauten ihren Augen kaum: Dort stand eine entzückende blonde Frau mit blauen Augen in einem roten Lederanzug, der sich wie eine zweite Haut um ihren Körper schmiegte. Er brachte ihre weiblichen Formen auf eine Weise zur Geltung, wie Snip es zuvor noch nie gesehen hatte. Die tief ausgeschnittenen Kleider, die die anderischen Frauen trugen, ließen den Ansatz ihrer Brüste erkennen, dieser Anzug dagegen schien, obwohl er alles verdeckte, irgendwie noch mehr zu offenbaren. Er konnte das Spiel ihrer schlanken, sich deutlich abzeichnenden Muskeln genau verfolgen, als sie auf die beiden zugeschritten kam.
»Das gehört euch nicht«, sagte die Frau. »Gebt es her, bevor ihr Jungen euch verletzt.«
Morley mochte nicht mehr als Junge bezeichnet werden, wenigstens nicht von einer Frau. Snip sah, wie seine kräftigen Muskeln sich spannten.
Die Frau stemmte die Fäuste in die Hüften. Für eine auf sich allein gestellte Frau benahm sie sich reichlich unverfroren, zumal die beiden ihr körperlich weit überlegen waren. Snip war bestimmt noch nicht vielen Frauen begegnet, die so finster blicken konnten wie diese hier, aber Angst hatte er wirklich nicht. Er war jetzt sein eigener Herr und brauchte niemandem Rechenschaft abzulegen.
Snip musste daran denken, wie hilflos Claudine Winthrop gewesen war, wie leicht es gewesen war, sie festzuhalten, bis sie sich nicht mehr wehren konnte. Dies war nur eine Frau wie Claudine, weiter nichts.
»Was habt ihr zwei eigentlich hier drinnen zu suchen?«, fragte sie.
»Schätze, wir könnten Euch dasselbe fragen«, erwiderte Morley.
Sie funkelte ihn an, dann hielt sie Snip die Hand hin. »Das gehört dir nicht.« Sie machte eine winkende Bewegung mit den Fingern. »Gib es heraus, bevor ich meine Beherrschung verliere und dir womöglich noch wehtun muss.«
Snip und Morley rannten im selben Augenblick in entgegengesetzte Richtungen los. Die Frau stürzte sich auf Snip, der warf Morley das Schwert zu. Morley fing es lachend auf, fuchtelte damit vor der Frau herum und neckte sie damit.
Snip umlief sie im Rücken und schlug die Richtung zur Tür ein, deshalb langte sie nach Morley, der aber schleuderte das Schwert über ihren Kopf und ihre ausgestreckten Arme hinweg.
Die drei rannten über den abgesenkten Fußboden in der Mitte des Saales. Wieder warf sich die Frau auf Snip, bekam sein Bein zu fassen und brachte ihn zu Fall, dabei warf er jedoch das Schwert erneut hinüber zu Morley.
Sogleich war die blonde Schönheit wieder auf den Beinen und rannte los, bevor Snip sich auf die Füße wälzen konnte. Morley stieß mit der Schulter gegen eine der weißen Marmorsäulen und kippte sie vor ihr quer über den roten Teppich. Die Schale auf der Säule fiel krachend zu Boden und zersprang zu tausend Splittern, die mit einem leise klingelnden, beinahe melodischen Klirren über Marmor und Teppich glitten.
»Ihr zwei habt keine Ahnung, was ihr tut!«, brüllte sie. »Hört sofort damit auf! Das gehört euch nicht! Das hier ist kein Spiel für Kinder! Ihr habt kein Recht, hier irgend etwas anzufassen! Ihr könntet ungeheures Unheil anrichten! Hört auf! Menschenleben stehen auf dem Spiel!«
Sie und Morley tänzelten um die gegenüberliegenden Seiten der nächsten Säule herum. Jedesmal, wenn sie nach ihm langte, schob er die Säule in ihre Richtung. Als die schwere goldene Vase auf der Säule ins Wanken geriet und ihr auf die Schulter fiel, entfuhr ihr ein Schrei. Snip wusste nicht, ob es Wut war oder Schmerz, was sie aufschreien ließ.
Schlangengleich wanden sich die drei um die Säulen zu beiden Seiten des roten Teppichs herum und kamen der Tür immer näher. Snip und Morley warfen sich das Schwert abwechselnd zu, ihre Aufmerksamkeit immer wieder in eine andere Richtung lenkend. Snip wollte eine der Säulen umstoßen, um die Fremde aufzuhalten, und war schockiert, wie schwer sie war. Als Morley sie umgeworfen hatte, hatte er geglaubt, sie wären leicht zu kippen – Fehlanzeige! Er versuchte es nicht noch einmal.