Die ganze Zeit über brüllte die Frau die beiden an, mit der Zerstörung der unbezahlbaren magischen Gegenstände aufzuhören, als Morley dann aber die Säule mit dem tintenschwarzen Fläschchen darauf umstieß, entfuhr ihr ein spitzer Schrei. Die Säule stürzte krachend zu Boden, das Fläschchen segelte durch die Luft.
Mit wehendem Zopf warf sie sich im Hechtsprung über den Boden, schlug auf und rutschte. Das Fläschchen entglitt ihren Händen, sprang hoch, landete auf dem Teppich und rollte aus, ohne jedoch zu zerbrechen.
Ihrem Gesichtsausdruck nach vermutete Snip, ihr Leben sei durch das Nichtzerbrechen des Fläschchens verschont geblieben.
Sie rappelte sich hoch und kam hinter ihnen hergestürzt, als sie durch die Tür nach draußen liefen. Im Freien warf Morley Snip lachend das Schwert zu, während sie am Rand der Umwallung entlangrannten.
»Ihr habt ja keine Vorstellung, was auf dem Spiel steht! Ich brauche dieses Schwert unbedingt. Es gehört euch nicht. Gebt es mir, und ich lasse euch laufen.«
Morley hatte diesen gewissen Blick in den Augen, diesen Blick, als wollte er ihr wehtun. Sehr weh tun. Diesen Blick hatte er schon bei Claudine Winthrop gehabt.
Snip wollte nichts weiter als das Schwert, sah aber ein, dass sie ernsthaft würden versuchen müssen, sie aufzuhalten, sonst würde sie ihnen Scherereien ohne Ende machen. Er hatte nicht die Absicht, das Schwert wieder herzugeben. Nicht jetzt, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten.
»He, Snip!«, rief Morley »Ich denke, es wird Zeit, dass du dir mal 'ne Frau vornimmst. Die hier gibt’s sogar umsonst. Was meinst du, soll ich sie für dich festhalten?«
Snip fand durchaus, dass sie ziemlich gut aussah. Außerdem war sie es, die die Scherereien machte. Sie wäre selbst dran schuld, sie wollte sie einfach nicht in Frieden lassen und sie wollte sich einfach nicht um ihre eigenen Dinge kümmern. Es geschähe ihr nur recht.
Da er es aus den richtigen Gründen tat, aus guten Gründen, verdiente er es, der Sucher der Wahrheit zu sein, davon war Snip überzeugt. Diese Frau hatte nicht das Recht, sich einzumischen.
Draußen im grellen Sonnenlicht wirkte die Farbe ihres Lederanzuges noch zorniger, ihr Gesicht war es ganz zweifellos. Sie sah aus, als hätte jemand sie an ihrem langen blonden Zopf gepackt und in Blut getaucht.
»Da versuche ich, es so zu machen wie er«, murmelte sie. »Ich versuche, es ihm recht zu machen.« Snip glaubte, sie sei womöglich verrückt geworden, so wie sie dastand, die Hände auf den Hüften, und in den Himmel sprach. »Und was habe ich davon? Das hier. Mir langt’s. Ich hab genug.«
Sie presste ein wütendes Stöhnen hervor, dann zerrte sie rote Lederhandschuhe hervor, die sie unter dem doppelten, das Oberteil ihres Anzugs fest an der Hüfte zusammenschnürenden Riemengürtel stecken hatte. Die Art, wie sie die Handschuhe überstreifte, wie sie ihre Finger hin und her bewegend hineinschob, hatte etwas beängstigend Endgültiges.
»Ich werde euch Knaben nicht noch einmal warnen«, sagte sie, diesmal mit einem bedrohlichen Knurren, dass sich Snip die Nackenhaare sträubten. »Her damit, und zwar sofort.«
Morley griff bereits an, als sie Snip noch grimmig anfunkelte. Er holte mit seiner mächtigen Faust aus, um sie seitlich am Kopf zu treffen. Snip glaubte, er würde sie mit dem allerersten Schlag umbringen, so hart schlug er zu.
Die Frau sah nicht einmal in Morleys Richtung. Sie fing seine Faust mit der flachen Hand ab, riss sie herum, drehte sich blitzschnell darunter hindurch und bog ihm den Arm auf den Rücken. Die Zähne aufeinander gebissen, schob sie den Arm immer höher.
Snip war entsetzt, als er hörte, wie Morleys Schulter ein Übelkeit erregendes Knacken von sich gab. Morley brüllte, der Schmerz warf ihn auf die Knie.
Diese Frau war anders als alle Frauen, denen Snip zuvor begegnet war. Und jetzt ging sie auf ihn los. Nicht etwa rennend, sondern mit einer Entschlossenheit im Schritt, die ihm den Atem stocken ließ.
Er stand da wie festgewachsen und wusste nicht, was er tun sollte. Er durfte seinen Freund nicht im Stich lassen, doch seine Füße wollten davonlaufen. Außerdem konnte er das Schwert nicht aufgeben. Allerdings begann er, sich an der mit Zinnen versehenen Mauer entlangzutasten.
Morley war wieder auf den Beinen, wollte sich erneut auf die Frau stürzen. Diese aber hatte es nach wie vor auf Snip abgesehen – und auf das Schwert. Snip entschied, dass er das Schwert womöglich ziehen und sie damit durchbohren musste – vielleicht ins Bein, überlegte er. Verwunden konnte er sie bestimmt.
Doch dann sah es ganz so aus, als wäre dies gar nicht nötig, diesmal würde wohl nichts den kräftigen Kerl aufhalten können.
Ohne sich auch nur nach dem heranstürzenden Morley umzudrehen, trat sie elegant auf die Seite – ohne Snip aus ihrem zornentbrannten Blick zu lassen –, zog ihren Arm hoch und rammte Morley den Ellenbogen mitten ins Gesicht.
Sein Kopf wurde nach hinten gestoßen, Blut spritzte hervor.
Nicht einmal schwer atmend drehte sie sich um und packte Morleys gesunde linke Hand. Sie umfasste die Finger, drückte ihm den Daumen auf den Handrücken und bog sie am Handgelenk nach unten, bis Morleys Knie nachgaben, während sie ihn rückwärts gegen die Wand drängte.
Wie ein Kind wimmernd flehte Morley sie an, loszulassen. Sein anderer Arm war nicht mehr zu gebrauchen, die Nase fürchterlich zerquetscht. Blut schoss ihm aus dem Gesicht. Auch sie musste über und über damit bespritzt sein, doch wegen des roten Lederanzugs konnte Snip das nicht genau erkennen.
Unaufhaltsam, gnadenlos drängte sie Morley rückwärts an die Wand. Ohne ein Wort packte sie ihn mit der anderen Hand bei der Kehle und schob ihn ruhig und ungerührt rückwärts durch die Lücke zwischen zwei Zinnen ins Nichts.
Snip sackte der Unterkiefer herunter. Das hatte er nicht erwartet – dass sie so weit gehen würde.
Morley schrie sich die Seele aus dem Leib, als er rücklings den Abhang hinunterstürzte. Starr lauschte Snip auf die Stimme seines Freundes aus dem flachen Anderith. Morleys Schrei riss unvermittelt ab…
Die Frau hatte aufgehört zu sprechen, aufgehört, irgendwelche Forderungen zu stellen. Sie ging jetzt einfach nur auf Snip los, die blauen Augen fest auf ihn geheftet. Ihm war klar, dass sie ihn, wenn sie ihn zu fassen kriegte, ebenfalls töten würde.
Dies war keine Claudine Winthrop. Dies war keine Frau, die ihn jemals mit ›Sir‹ ansprechen würde.
Endlich bekamen Snips Füße ihren Willen.
Wenn Snip eines besser konnte als Morley mit all seinen Muskeln, dann war dies rennen wie der Wind. Und jetzt rannte er wie ein Sturm.
Ein kurzer Blick zurück versetzte ihm einen Schock: Die Frau konnte noch schneller rennen. Sie war groß und hatte die längeren Beine. Sie würde ihn einholen, ihm das Gesicht mit ebensolcher Leichtigkeit einschlagen wie Morley, ihn ebenfalls in den Tod stürzen. Oder ihm das Schwert abnehmen und das Herz herausschneiden.
Snip spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. So schnell war er noch nie gerannt. Sie war schneller.
Eher fallend als laufend flog er die Stufen hinunter. Er warf sich über das Geländer und sprang den nächsten Treppenlauf hinab. Alles verschwamm. Steinerne Mauern, Fenster, Treppengeländer, Stufen – alles huschte nur so vorbei.
Snip, das Schwert der Wahrheit vor die Brust geklammert, segelte durch einen Türdurchgang, bekam mit seiner freien Hand die Kante der mächtigen Tür zu fassen und schlug sie krachend zu. Das Scheppern der zugeschlagenen Tür war noch nicht verhallt, als er ein großes steinernes Postament hinter der Tür quer auf den Boden kippte. Es war schwerer als die weißen Marmorsäulen, aber seine entsetzliche Angst verlieh ihm die nötige Kraft.