Du Chaillu ergriff abermals Kahlans Hand und legte sie wieder auf das Baby. Kahlan presste die Augen zusammen, als sie spürte, wie das Kind sich bewegte.
»Das kannst du dem Leben in dir nicht antun, Kahlan. Dem Leben, das aus deiner Liebe entstanden ist. Das darfst du nicht. Es würde alles nur noch schlimmer machen.«
Richard trat aus dem kleinen Gebäude, die Schriftrolle in der Hand. »Kahlan?«, rief er.
Kahlan wandte sich zu Du Chaillu. »Du hast mir dein Wort gegeben, kein Wort darüber zu verlieren.«
Du Chaillu lächelte und strich Kahlan über die Wange, so wie eine Großmutter ihr Enkelkind aus Mitgefühl berühren würde. Kahlan war sich bewusst, dass in diesem Augenblick nicht Du Chaillu, Richards erste Gemahlin, sondern Du Chaillu, die Seelenfrau der Baka Tau Mana, sie berührt hatte.
Kahlan erhob sich, im selben Augenblick ihre Konfessorenmiene aufsetzend. Richard sah sie und eilte herbei.
Sein verwunderter Blick wanderte zwischen ihr und Du Chaillu hin und her; schließlich zeigte er ihr die Schriftrolle.
»Ich wusste, es hatte etwas mit dem Wort ›Schule‹ zu tun.«
»Was?«, fragte Kahlan.
»Die Dominie Dirtch. Schau hier.« Er tippte auf die Schriftrolle. »Hier steht, er habe die Einmischung neidischer Kollegen nicht gefürchtet, da er« – Richard fuhr mit dem Finger über das Wort, während er es laut vorlas – »unter dem Schutz der Dämonen stand.«
Kahlan hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. »Und was ist daran so wichtig …?«
Richard las wieder in der Schriftrolle. »Was? Ach ja. Nun, als du mir gegenüber den Namen Dominie Dirtch zum ersten Mal erwähntest, war ich der Meinung, er sei Hoch-D’Haran, konnte mir aber nicht erklären, was er bedeutete. Es handelt sich um eine dieser tückischen, mehrschichtigen Wendungen, von denen ich dir erzählt habe.
Wie auch immer, bei ›Dominie‹ handelt es sich um ein Wort, das mit Schule oder Zucht zu tun hat, wie in den Begriffen Unterrichten oder Ausbilden oder, noch wichtiger, Anleiten oder Führen. Als mir jetzt dieser andere Aspekt der Bedeutung klar wurde, half das meinem Gedächtnis auf die Sprünge, und ich konnte das Wort übersetzen.
›Dominie Dirtch‹ bedeutet ›Schulung der Dämonen‹.«
Kahlan konnte einen Augenblick nur ausdruckslos starren. »Aber – was soll das heißen?«
Richard warf die Arme in die Höhe. »Keine Ahnung, aber das wird sich alles finden, da bin ich mir sicher.«
»Na ja, gut und schön«, meinte Kahlan.
Er blickte sie missbilligend an. »Was ist denn los? Dein Gesicht sieht irgendwie – komisch aus.«
»Na, vielen Dank.«
Er wurde rot. »Ich meinte nicht, dass es schlecht aussieht.«
Kahlan machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, schon gut. Ich bin nur müde. Wir haben eine lange, beschwerliche Reise hinter uns und mussten endlos vor irgendwelchen Leuten reden.«
»Ist dir ein Ort mit Namen ›die Öfen‹ bekannt?«
»Die Öfen.« Kahlan runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, ich erinnere mich an den Ort. Tatsächlich ist er gar nicht weit von hier entfernt. Er liegt ein kleines Stückchen höher, oberhalb des Nareef-Tales.«
»Wie weit?«
Kahlan zog eine Schulter hoch. »Wir könnten in ein paar Stunden dort sein, so gegen Nachmittag, falls das aus irgendeinem Grund wichtig ist.«
»Ander lässt sich in den Schriftrollen über diesen Ort aus. Er erwähnt ihn indirekt im Zusammenhang mit den Dämonen – den Dominie Dirtch. Das war der Abschnitt, wo ich beides dann miteinander in Verbindung brachte.«
Richard blickte den Pfad hinunter zu der Gruppe von Menschen, die sich dort geduldig wartend versammelt hatten. »Sobald wir mit diesen Leuten gesprochen haben, möchte ich dort hinaufsteigen und mich umsehen.«
Kahlan ergriff seinen Arm. »Es ist ein hübsches Fleckchen. Ich hätte nichts dagegen, es mir noch einmal anzusehen. Und jetzt lass uns zu den Leuten gehen und ihnen erklären, warum sie das Kreiszeichen machen müssen, wenn sie sich uns anschließen wollen.«
Die erwartungsvollen Gesichter gehörten fast ausschließlich Hakeniern. Die meisten arbeiteten auf Farmen in der Gegend um die kleine Ortschaft Westbrook. Wie alle, die gekommen waren, um sie auf ihrer Rundreise durch Anderith zu sehen, waren diese Menschen erfüllt von Sorge und Kummer. Sie wussten, dass eine Veränderung in der Luft lag. Für die meisten Menschen war Veränderung gleichbedeutend mit Gefahr.
Statt kühl das Wort an sie zu richten, mischte sich Richard unter sie, fragte sie nach ihrem Namen, lächelte den Kindern zu, strich den ganz Kleinen mit Hand oder Finger über die Wange. Weil dies Richards wahrem Wesen entsprach, weil es ernst gemeint und nicht aufgesetzt war, sah er sich innerhalb weniger Minuten von einer Kinderschar umringt. Mütter lächelten, sobald er den Kleinen über ihre roten oder dunkelhaarigen Köpfe streichelte. Auch die sorgenzerfurchten Mienen der Väter entspannten sich.
»Liebe Bürger von Anderith«, hob Richard, mitten unter ihnen stehend, an, »die Mutter Konfessor und ich sind gekommen, nicht um als Herrscher, sondern als eure bescheidenen Fürsprecher das Wort an euch zu richten. Wir sind nicht gekommen, um euch Vorschriften zu machen, sondern um euch zu helfen, die Entscheidungen, vor denen wir alle stehen, sowie die Chance, selbst über eure Zukunft zu entscheiden, zu begreifen.«
Er winkte ihr zu, und Kahlan bahnte sich behutsam einen Weg durch das Gedränge strahlender Kinder, um sich neben ihn zu stellen. Sie hatte angenommen, sie könnten sich vor einem so großen Mann wie Richard in seinem schwarzgoldenen Anzug, der ihn noch eindrucksvoller erscheinen ließ, fürchten, stattdessen schmiegten sich viele von ihnen an ihn, als wäre er ein Lieblingsonkel.
Es war das weiße Kleid der Mutter Konfessor, das ihnen Angst machte, denn wie die meisten Menschen in den Midlands waren sie von Geburt an vor der Mutter Konfessor und ihrer Kraft gewarnt worden. Sie machten ihr Platz, wobei sie ihr Möglichstes taten, nicht mit ihrem weißen Kleid in Berührung zu kommen, gleichzeitig aber in Richards Nähe zu bleiben. Kahlan sehnte sich danach, zu erleben, wie sie sich um sie genauso scharten wie um Richard, doch sie verstand. Sie hatte ihr ganzes Leben lang verstanden.
»Die Mutter Konfessor und ich haben geheiratet, weil wir einander lieben. Aber wir lieben auch die Völker der Midlands und D’Hara. So wie wir in der Ehe vereint sein wollten, um uns auf eine gemeinsame Zukunft freuen zu können, so wollen wir das Volk Anderiths mit uns und den anderen Völkern der Midlands vereint sehen, damit wir gemeinsam in eine starke und gesicherte Zukunft schreiten können, die euch und euren Kindern die Hoffnung auf ein besseres Leben garantiert.
Aus der Alten Welt marschiert die Tyrannei heran. Die Imperiale Ordnung will euch zu Sklaven machen. Sie lassen euch keine andere Wahl, als euch entweder zu unterwerfen oder zu sterben. Nur wenn ihr euch uns anschließt, werdet ihr eine Chance haben, in Sicherheit zu leben.
Die Mutter Konfessor und ich sind überzeugt, wenn wir die Völker der Midlands und D’Haras vereinen und alle wie ein Mann zusammenstehen, um unsere Freiheit zu bewahren, dann wird es uns gelingen, diese Bedrohung für unser Zuhause und unsere Sicherheit … und die Zukunft unserer Kinder zurückzuschlagen.
Unterwerfen wir uns aber ängstlich der Tyrannei, werden wir nie wieder Gelegenheit bekommen, flügge zu werden. Nie wieder werden sich unsere Seelen stolz auf dem Wind der Hoffnung in die Höhe schwingen. Niemand wird Gelegenheit erhalten, in Frieden eine Familie zu gründen, oder davon träumen können, seinen Kindern werde es eines Tages besser gehen.
Wenn wir uns der Imperialen Ordnung nicht entgegenstemmen, werden wir im Schatten der Sklaverei dahinvegetieren. Wenn es so weit kommt, werden wir auf ewig in die Finsternis der Unterdrückung hinabsteigen.
Deshalb sind wir gekommen, um zu euch zu sprechen. Wir vertrauen darauf, dass ihr euch auf unsere Seite stellt, dass ihr euch auf die Seite aller friedliebenden Menschen schlagt, gemeinsam mit denen, die wissen, dass die Zukunft strahlend und voller Hoffnung sein kann.