»Ein Huhn«, sagte Richard, bevor Kahlan es ihm sagen konnte. Offenbar hatte er gelernt, daß chenota in der Sprache der Schlammenschen ›Huhn‹ bedeutete. »Ein Huhn hat deinen Jungen angegriffen?«
Sie machte ein verständnisloses Gesicht, als Kahlan Richards Frage übersetzte. Das verbitterte Lachen der Frau übertönte den trommelnden Regen. »Ein Huhn soll ihn angegriffen haben?« Mit einer knappen Handbewegung, so als hätte sie für einen Augenblick geglaubt, sie meinten es ernst, meinte sie spöttisch: »Ungi hält sich für einen großen Jäger. Er macht Jagd auf Hühner. Dieses Mal hat er eins in die Enge getrieben, es verängstigt, dafür hat es ihn bei seinem Fluchtversuch zerkratzt.«
Richard ging vor Ungi in die Hocke und fuhr dem Jungen zausend durch seinen dunklen, nassen Haarschopf. »Du hast Hühner gejagt? Ka chenota? Sie geneckt? In Wirklichkeit war es ganz anders, nicht wahr?«
Statt Richards Frage zu dolmetschen, hockte sich Kahlan auf ihre Fußballen. »Richard, was hat das zu bedeuten?« Richard legte dem Jungen tröstend eine Hand auf den Rücken, während seine Mutter ihm das Blut abwischte, das ihm die Wange herunterlief. »Sieh dir die Kratzspuren an«, sagte Richard leise. »Die meisten verlaufen rings um den Hals.«
Kahlan stieß einen tiefen, verärgerten Seufzer aus. »Er hat zweifellos versucht, es hochzuheben und an seinen Körper zu drücken. Daraufhin hat das Huhn einfach in panischer Angst versucht zu fliehen.«
Widerstrebend mußte Richard zugeben, daß es so gewesen sein konnte.
»Das ist kein großes Malheur«, verkündete Zedd von oben. »Laßt mich den Jungen ein wenig heilen, dann kommen wir endlich raus aus diesem verdammten Regen und können ins Haus gehen und etwas essen. Außerdem habe ich noch eine Menge Fragen zu stellen.«
Richard hob, immer noch vor dem Jungen hockend, einen Finger, um sich Zedd vom Leib zu halten. Er sah Kahlan in die Augen. »Frag ihn bitte, ja?«
»Dann erklär mir, warum.« Kahlan blieb standhaft. »Geht es um das, was der Vogelmann erzählt hat? Geht es tatsächlich darum? Der Mann war betrunken, Richard.«
»Sieh über meine Schulter.«
Kahlan spähte durch die Ströme des alles verwischenden Regens. Auf der anderen Seite des schmalen Durchganges, unter den tropfenden gräsernen Dachtraufen an der Ecke eines Gebäudes, war ein Huhn damit beschäftigt, sein Federkleid aufzuplustern. Es war, wie die meisten Hühner der Schlammenschen, ein weiteres Exemplar der Felsstreifenrasse.
Kahlan war kalt, sie fühlte sich elend und war vollkommen durchnäßt; deshalb war sie kurz davor, die Geduld zu verlieren, als ihr und Richards wartender Blick sich abermals kreuzten.
»Ein Huhn, das Schutz vor dem Regen sucht? Ist es das, was ich deiner Meinung nach sehen soll?«
»Ich weiß, du denkst…«
»Richard!« knurrte sie im Flüsterton. »Hör mir zu.«
Sie hielt inne, weil sie nicht mit Richard streiten wollte, und redete sich ein, er wäre nur um ihre Sicherheit besorgt. Doch diese Sorge war völlig aus der Luft gegriffen. Kahlan zwang sich durchzuatmen. Sie packte ihn an der Schulter und massierte sie mit dem Daumen.
»Richard, du fühlst dich nur deshalb schlecht, weil heute Juni gestorben ist. Schlecht fühle ich mich auch, aber deswegen ist daran noch nichts Unheilvolles. Vielleicht hat er sich beim Laufen überanstrengt, ich habe gehört, so etwas kommt bei jungen Menschen vor. Sieh endlich ein, daß Menschen manchmal sterben, ohne daß wir den Grund dafür kennen.«
Richard sah zu den anderen hoch. Zedd und Ann taten, als bewunderten sie die Muskeln des jungen Ungi, um dem Wortgefecht zu entgehen, das verdächtig nach einem Zank zwischen Verliebten zu klingen begann. Cara stand in der Nähe und blickte prüfend in die Durchgänge. Einer der Jäger bot an, Ungi mit dem Schaft seines Speeres spielen zu lassen, um den Jungen von seiner Mutter abzulenken, die seine Wunden versorgte.
Richard, der sich offenbar nur ungern streiten wollte, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Ich glaube, es handelt sich um dasselbe Huhn, das ich aus dem Haus gescheucht habe«, meinte er schließlich leise. »Das im Fenster, das ich mit dem Stock getroffen habe.«
Kahlan stöhnte vor Verzweiflung. »Richard, die meisten Hühner der Schlammenschen sehen genau aus wie dieses.« Sie blickte ein weiteres Mal zur Unterseite des Daches hinüber. »Außerdem ist es verschwunden.«
Richard blickte über seine Schulter, um sich selbst zu überzeugen. Sein Blick wanderte suchend durch den Durchgang.
»Frag den Jungen, ob er das Huhn geneckt und gescheucht hat.«
Auch Ungis Mutter hatte, während sie unter dem schmalen Dach über der Tür seine Wunden versorgte, aufmerksam die Unterhaltung zu ihren Füßen verfolgt, die sie nicht verstand. Kahlan leckte sich den Regen von den Lippen. Wenn es Richard so viel bedeutete, entschied sie, konnte sie wenigstens für ihn nachfragen. Sie berührte den Jungen am Arm.
»Ist es wahr, Ungi, daß du das Huhn gejagt hast? Hast du versucht, es zu fangen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Es hat sich auf mich gestürzt.« Er machte eine krallende Bewegung. »Es hat mich angegriffen.«
Die Mutter beugte sich vor und versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern. »Sag diesen Leuten die Wahrheit. Du und deine Freunde, ihr seid doch ständig den Hühnern hinterhergerannt.«
Er blinzelte Kahlan und Richard, die sich beide auf seiner Höhe und in seiner Welt befanden, aus seinen großen, dunklen Augen an. »Ich werde einmal ein großer Jäger werden, genau wie mein Vater. Er ist ein tapferer Jäger, er hat Narben von den wilden Tieren, die er jagt.«
Richard mußte lächeln, als er die Übersetzung hörte. Behutsam berührte er eine der von den Krallen hinterlassenen Spuren. »Hier wirst du die Narbe eines Jägers bekommen, genau wie dein tapferer Vater. Also, hast du die Hühner gejagt, wie deine Mutter sagt? Ist das wirklich die Wahrheit?«
»Ich war hungrig. Ich war auf dem Weg nach Hause. Das Huhn hat mich gejagt«, beharrte er. Seine Mutter sprach warnend seinen Namen. »Na ja … sie hockten auf dem Dach dort drüben.« Er zeigte abermals nach oben auf das Dach über der Tür. »Vielleicht habe ich ihm einen Schrecken eingejagt, als ich nach Hause gerannt kam, und es ist auf dem nassen Dach ausgerutscht und auf mich gefallen.«
Die Mutter öffnete die Tür und schob den Jungen ins Haus. »Vergebt meinem Sohn. Er ist noch klein und denkt sich ständig irgendwelche Geschichten aus. Immerzu scheucht er die Hühner herum. Es ist nicht das erste Mal, daß er von einem zerkratzt worden ist. Einmal hat ihm ein Hahn mit seinen Sporen eine klaffende Wunde an der Schulter zugefügt. Er stellt sich dann vor, es seien Adler.
Ungi ist ein guter Junge, aber er ist eben ein Junge und steckt voller Geschichten. Wenn er unter einem Felsen einen Salamander findet, kommt er nach Hause gerannt, um ihn mir zu zeigen und mir zu erzählen, er habe ein Drachennest gefunden. Dann will er, daß sein Vater kommt und die Drachen tötet, bevor sie uns fressen können.«
Alle außer Richard schmunzelten amüsiert. Als sie zum Abschied den Kopf neigte und sich umwandte, um ins Haus zu gehen, faßte Richard sie sachte am Ellenbogen und hielt sie fest, während er mit Kahlan sprach.
»Sag ihr, es tut mir leid, daß der Junge verletzt wurde. Es war nicht Ungis Fehler. Sag ihr das. Sag ihr, es tut mir leid.«
Kahlan runzelte angesichts dieser Worte die Stirn. Sie veränderte sie beim Übersetzen ein wenig, damit sie nicht falsch aufgefaßt wurden.
»Es tut uns leid, daß Ungi verletzt wurde. Hoffentlich geht es ihm bald wieder gut. Wenn nicht oder falls einige der Wunden tief sein sollten, komm und sag uns Bescheid, dann wird Zedd deinen Jungen mit Magie heilen.«
Die Mutter nickte und setzte ein dankbares Lächeln auf, bevor sie ihnen einen guten Tag wünschte und gebückt in der Tür verschwand. Soweit Kahlan dies beurteilen konnte, war sie nicht sonderlich versessen darauf, daß man ihren Sohn mit Magie behandelte.