»Was meinst du damit? Inwiefern?«
»Das weiß ich nicht. Von Magie verstehe ich nicht so viel wie du – vielleicht kannst du es mir erklären. Aber angenommen, er hätte einfach für jede Dominie Dirtch einen kleinen Felsen von hier zu jener Stelle mitgenommen, wo sie sich heute befinden, und sie dort vergrößert.«
»Sie dort vergrößert?«
Richard breitete hilflos die Hände aus. »Was weiß ich. Vielleicht hat er den Felsen mit Hilfe von Magie wachsen lassen oder sogar die Gesteinsstruktur als eine Art Anleitung benutzt, um daraus mit Hilfe von Additiver Magie die Dominie Dirtch herzustellen.«
»Erst dachte ich, du würdest mit irgendeiner verrückten Idee aufwarten«, meinte Kahlan. »Aber soweit ich mich mit Magie auskenne, klingt das eigentlich ganz vernünftig.«
Richard war erleichtert, sich nicht blamiert zu haben. »Ich denke, ich schwimme hinüber zu der Höhle und sehe nach, was sich dort befindet.«
»Gar nichts, nach allem, was ich gehört habe. Nichts weiter als eine heiße Höhle. Sie ist nicht tief – gerade mal zwanzig Fuß.«
»Na ja, ich mag Höhlen zwar nicht besonders, aber es kann wohl nicht schaden, sich dort einmal umzusehen.«
Richard zog sein Hemd aus und drehte sich zum Wasser um.
»Willst du deine Hosen nicht ausziehen?«
Richard blickte sich um und sah ihr listiges Grinsen.
»Ich wollte den Pferdegeruch herauswaschen.«
»Och«, tat Kahlan übertrieben enttäuscht.
Grinsend wandte Richard sich wieder dem Wasser zu, um hineinzuspringen. Er wollte sich gerade hineinfallen lassen, als ihn ein Rabe kreischend attackierte. Richard musste zurückspringen, um von dem großen Vogel nicht getroffen zu werden.
Den Arm nach hinten gestreckt, machte Richard Kahlan ein Zeichen, wieder vom Felsen hinunterzusteigen.
Der Vogel krächzte, laut hallte sein Schrei von den Bergen wider. Der Vogel stieß abermals auf sie herab und verfehlte knapp Richards Kopf. Kreisend stieg der Vogel immer höher. Die Luft pfiff durch sein Gefieder, als er auf sie herabstürzte und sie vom Wasser fortdrängte.
»Hat der Vogel den Verstand verloren?«, fragte Kahlan. »Vielleicht will er sein Nest schützen? Oder verhalten sich Raben immer so?«
Richard hielt sie fest am Arm gepackt und drängte sie zurück unter die Bäume. »Raben sind intelligente Vögel, die ihre Nester verteidigen, aber manchmal verhalten sie sich eigenartig. Ich fürchte, dieses Exemplar ist mehr als nur ein Rabe.«
»Mehr als nur ein Rabe? Was meinst du damit?«
Der Vogel ließ sich auf einem Ast nieder und plusterte, offenkundig mit sich selbst zufrieden, sein glänzend schwarzes Gefieder auf, wie Raben dies gewöhnlich tun.
Richard nahm sein Hemd, als sie es ihm reichte. »Ich würde sagen, er ist eine Chimäre.«
Der Vogel schien ihn selbst auf diese Entfernung noch zu hören. Er schlug mit den Flügeln, hüpfte auf dem Ast hin und her und wirkte ziemlich aufgeregt.
»Erinnerst du dich noch an die Bibliothek? An den Raben draußen vor dem Fenster, der sich so auffällig verhalten hat?«
»Bei den Gütigen Seelen«, flüsterte sie in einer Mischung aus Angst und Sorge. »Meinst du, es ist derselbe? Glaubst du, er ist uns den ganzen Weg hierher gefolgt?«
Richard drehte sich kurz zu ihr um. »Und wenn es eine Chimäre ist, die uns belauscht hat und hier heraufgeflogen ist, um auf uns zu warten?«
Jetzt wirkte Kahlan echt verängstigt. »Was sollen wir tun?«
Sie langten bei ihren Pferden an. Richard riss den Bogen vom Sattel und zog einen Pfeil mit Stahlspitze aus dem Köcher.
»Ich glaube, ich sollte ihn töten.«
Im selben Augenblick, als Richard hinter dem Pferd hervorkam, erspähte der Vogel den Bogen und sprang – es war fast ein Aufschrecken – mit einem lauten Krächzen in die Höhe, als hätte er nicht erwartet, Richard könnte zu einer Waffe greifen.
Als Richard den Pfeil einlegte, flog der Vogel unter wildem Krächzen und Gekreische auf.
»Also«, meinte Richard, »wenn das nicht seltsam war.«
»Wenigstens wissen wir jetzt, dass es eine Chimäre war. Offenbar hat die eine, die du im Dorf der Schlammenschen abgeschossen hast, die anderen informiert.«
Richard schüttelte verwirrt den Kopf. »Vermutlich.«
»Ich will nicht, dass du in diesem See schwimmst, Richard. Es könnten Chimären darin lauern, deshalb wäre es töricht, schwimmen zu gehen, solange die Chimären auf freiem Fuß sind.«
»Aber sie scheinen sich vor mir zu fürchten.«
Sie legte ihm die Hand seitlich an den Hals, um zu verhindern, dass er den Kopf wegdrehte.
»Und wenn sie dich nur in falsche Sicherheit wiegen und hinaus ins tiefe Wasser locken wollen? Kannst du dir das vorstellen? Zedd hat gesagt, wir sollen dem Wasser fernbleiben.«
Sie rieb sich die Arme, schien plötzlich zu frieren.
»Bitte, Richard, lass uns von hier fortgehen, ja? Irgendetwas an diesem Ort…«
Richard streifte sein Hemd über und zog sie heran.
»Ich glaube, du hast Recht. Es ist wirklich nicht nötig, ein großes Risiko einzugehen, nicht nach einem Zusammenstoß mit einem Raben, der keiner ist. Außerdem wäre Du Chaillu so wütend über unseren Tod, dass sie ihr Kind vor der Zeit zur Welt bringen würde.«
Kahlan packte sein Hemd, sie wirkte plötzlich mitgenommen. »Richard, meinst du … wir könnten…«
»Könnten was?«
Sie ließ sein Hemd los und gab ihm einen Klaps auf die Brust. »Wir könnten diesen Ort sofort verlassen?«
»Ich denke, das sollten wir sogar.«
Sie rannten zurück, mittlerweile konnten beide es kaum erwarten, den See hinter sich zu lassen. Er half ihr aufs Pferd. »Jedenfalls glaube ich, wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben – das Gestein, aus dem die Dominie Dirtch hergestellt wurden. Vermutlich werden wir unsere Pläne ändern müssen.«
»Was soll das heißen?«
»Ich denke, wir sollten nach Fairfield zurückreiten und uns im Hinblick auf unsere neuen Erkenntnisse sämtliche Bücher noch einmal vornehmen.«
»Aber was wird aus der Abstimmung? Mit den Orten, die wir noch aufsuchen müssen?«
»Wir werden die Männer ohnehin aufteilen und losschicken müssen, um Abstimmung und Auszählung zu überwachen und das Ergebnis anschließend nach Fairfield zu bringen. Dann können wir sie auch gleich aussenden und sie vorher zu den Menschen in sämtlichen Ortschaften sprechen lassen. Es sind Männer darunter, denen ich zutraue, an unserer Stelle zu sprechen. Sie haben oft genug gehört, was wir zu sagen haben.
Also können wir sie auch gleich hier aufteilen und sie losschicken, während wir uns auf den Weg zurück zum Anwesen machen. Es wäre bestimmt kein Fehler, dafür zu sorgen, dass wir alle Menschen in Fairfield überzeugen, für den Anschluss zu stimmen.«
Kahlan nickte. »Unsere oberste Verantwortung gilt den Chimären. Es nützt uns nichts, die Abstimmung zu gewinnen, solange die Chimären jeden töten.«
Etwas erregte plötzlich Richards Aufmerksamkeit. Er schwang sich aus dem Sattel und warf Kahlan die Zügel seines Pferdes zu. Durch das Gras stapfte er zurück zu der Fichtengruppe.
»Was ist es?«, rief Kahlan, die es eilig hatte, aufzubrechen.
Richard hob einen vertrockneten Ast hoch. »Ein Sattel. Jemand hat seine Sachen hier zurückgelassen und sie zugedeckt, damit sie trocken bleiben.«
»Wahrscheinlich der Besitzer des Pferdes, das wir gesehen haben«, meinte sie.
»Vielleicht gehört er einem Fallensteller«, rief Richard. »Er sieht allerdings so aus, als läge er bereits eine Weile hier.«
»Gut, Richard, wenn du nicht die Absicht hast, jemandem seine Ausrüstung zu stehlen, dann lass uns jetzt von hier fortreiten.«
Der Rabe stieß einen Schrei aus, und Richard eilte zu seinem Pferd zurück. »Ich finde es einfach nur seltsam, das ist alles.«
Als sie sich den Pfad hinunter auf den Weg machten, schaute Richard noch einmal über die Schulter zurück. Hoch oben am Himmel sah er mehrere Raben kreisen. Welcher von ihnen der unechte Rabe war, wusste er nicht. Vielleicht waren sie alle unecht.