»Und was hattet Ihr für den Fall geplant, dass die Schwestern des Lichts sich weigern, ihre Abhängigkeit aufzugeben?«
»Jagang benutzt sie und ihre Magie, genau wie er deine benutzt. Sind die Chimären erst verbannt, wird die Magie zurückkehren, und die Schwestern werden ihre Kraft zurückerhalten. Viele Menschen werden durch ihre Hände sterben, ganz gleich, wie unwillig diese Hände sind. Für den Fall, dass sie sich weigern, ihre Abhängigkeit aufzugeben und mit mir fortzugehen, war geplant, sie zu töten.«
Schwester Alessandra zog eine Braue hoch. »Sieh an, Prälatin. Dann sind wir also doch nicht so verschieden. Genau so hätte auch eine Schwester der Finsternis argumentiert.«
»Das ist einfach gesunder Menschenverstand. Das Leben vieler Menschen ist in Gefahr.« Ann war ausgehungert und linste sehnsüchtig auf den Löffel, der über der nahezu vollen Schale schwebte.
»Und wieso hat man Euch dann aufgegriffen?«
Ann seufzte. »Weil ich glaubte, sie würden mich nicht anlügen, nicht in einer so wichtigen Angelegenheit. Es wäre zwar kein Grund, sie hinzurichten, würde aber die lästige und doch erforderliche Tat ein wenig erleichtern.«
Endlich gab Alessandra Ann den Löffel mit der Wurst. Diesmal zwang Ann sich, langsam zu kauen, um den Geschmack zu genießen.
»Du könntest noch immer mit mir zusammen fliehen, Alessandra«, meinte Ann ruhig, nachdem sie endlich geschluckt hatte.
Alessandra entfernte etwas aus der Schale und warf es fort. Sie rührte abermals in der Suppe.
»Ich sagte bereits, das ist nicht möglich.«
»Warum nicht? Weil Jagang es dir gesagt hat? Weil er dir gesagt hat, er sei immer noch in deinem Verstand?«
»Das ist ein Grund.«
»Alessandra, Jagang hat dir versprochen, wenn du dich um mich kümmerst, werde er dich nicht hinaus zu den Zelten schicken, wo du für seine Männer die Hure spielen musst. Das waren seine Worte, wie du mir selbst erzählt hast.«
Die Frau zögerte mit dem Löffel, während ihr die Tränen in die Augen traten. »Wir gehören seiner Exzellenz.« Mit der anderen Hand berührte sie den goldenen Ring in ihrer Unterlippe – das Kennzeichen der Sklaven Jagangs. »Er kann mit uns machen, was immer ihm beliebt.«
»Er hat dich angelogen, Alessandra. Er hat gesagt, er werde das nicht tun, wenn du dich um mich kümmerst. Das war gelogen. Einem Lügner kann man nicht trauen. Nicht, wenn es um deine Zukunft, um dein Leben geht. Das war auch mein Fehler, nur würde ich keinem Lügner eine zweite Chance geben, mir so etwas anzutun. Wenn er in diesem Punkt gelogen hat, worüber mag er dann noch gelogen haben?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nun, dass ihr nie entkommen könnt, weil er sich immer noch in eurem Verstand befindet. Das tut er nicht, Alessandra. Genauso wenig, wie er in meinen Verstand eindringen kann, kann er zur Zeit in deinen eindringen. Wenn die Chimären verbannt sind, ja, aber nicht jetzt.
Sobald du Richard Ergebenheit schwörst, wirst du selbst dann geschützt sein, wenn die Chimären vertrieben sind. Du kannst von hier fortgehen, Alessandra. Wir können unsere grausame Pflicht bei jenen Schwestern erfüllen, die gelogen und sich entschieden haben, bei einem anderen Lügner zu bleiben, und anschließend fliehen.«
Schwester Alessandras Stimme war so ungerührt wie ihr Gesicht. »Ihr vergesst, Prälatin, ich bin eine Schwester der Finsternis, die dem Hüter die Treue geschworen hat.«
»Als Gegenleistung für was, Alessandra? Was hat dir der Hüter der Unterwelt versprochen? Was hat er dir geboten, das besser ist als eine Ewigkeit im Licht?«
»Unsterblichkeit.«
Ann saß da und musterte den durch nichts zu erschütternden Blick der Frau. Draußen gingen Männer, von denen einige diese wehrlose, fünfhundert Jahre alte Schwester der Finsternis missbraucht hatten, weiter johlend ihren nächtlichen Vergnügungen nach. Gerüche, angenehme wie widerwärtige, wehten durch das Zelt: brutzelnder Knoblauch, Pferdemist, schmorendes Fleisch, verbranntes Fell, der süßliche Geruch eines Birkenstammes in einem nahen Feuer, alter Schweiß.
Auch Ann hielt dem Blick stand.
»Alessandra, der Hüter belügt dich.«
Gefühl kehrte in die Augen der Schwester zurück.
Sie stand auf und schüttete die beinahe volle Schale mit Suppe draußen vor dem Zelt auf die Erde.
Schwester Alessandra, einen Fuß draußen, den anderen noch im Zelt, drehte sich noch einmal um.
»Von mir aus könnt Ihr verhungern, alte Frau. Lieber gehe ich wieder in die Zelte, als mir Eure Lästerreden anzuhören.«
In der hoffnungslos einsamen Stille, gequält an Leib und Seele, betete Ann zum Schöpfer und bat ihn, er möge Schwester Alessandra eine Chance geben, ins Licht zurückzukehren. Sie betete auch für die Schwestern des Lichts, die jetzt ebenso verloren waren wie die Schwestern der Finsternis.
Von ihrem Platz aus, auf dem sie angekettet und allein in ihrem Zelt hockte, schien es, als wäre die Welt verrückt geworden.
»Gütiger Schöpfer, was hast Du nur getan?«, weinte Ann. »Ist das ebenfalls nichts als Lüge?«
58
Dalton eilte gehetzt an die Ehrentafel und lächelte Teresa zu. Sie machte einen einsamen und verlorenen Eindruck, doch trotz seiner Verspätung wirkte sie eher erleichtert, ihn zu sehen. In letzter Zeit sah er sie viel zu selten, aber daran war nichts zu ändern. Zum Glück hatte sie Verständnis dafür.
Dalton gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sich auf seinen Platz setzte.
Der Minister nahm ihn lediglich mit einem flüchtigen Seitenblick zur Kenntnis. Er war soeben damit beschäftigt, mit einer Frau an einer Tafel auf der rechten Seite des Speisesaales lüsterne Blicke zu tauschen. Es hatte den Anschein, als machte sie anzügliche Gesten mit einer Roulade. Der Minister schmunzelte.
Statt sich von Bertrands sexuellen Vorlieben abstoßen zu lassen, fühlten sich weit mehr Frauen gerade ihretwegen zu ihm hingezogen, auch wenn sie gar nicht die Absicht hatten, dieser Verlockung nachzugeben. Es schien eine Laune weiblicher Denkart zu sein, dass gewisse Frauen sich von greifbaren Beweisen sexueller Kraft unwiderstehlich angezogen fühlten, wie ungehörig diese auch sein mochten; ein in den Eingeweiden spürbares leichtes Ziehen von Gefährlichkeit, ebenso verlockend wie verboten. Je mehr gewisse Männer den Schurken herauskehrten, desto inbrünstiger die schmachtenden Seufzer vieler Frauen.
»Hoffentlich hast du dich nicht allzu sehr gelangweilt«, meinte Dalton leise zu Teresa und hielt einen Augenblick inne, um die Glut ihrer pflichtgetreuen Zuneigung zu würdigen.
Von dem kurzen, Teresa zugedachten Lächeln abgesehen, gab er sein Möglichstes, jetzt, kurz vor der Erfüllung seines ganzen Strebens, den gewohnt gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren. Er trank einen kräftigen Schluck Wein, den er kaum schmeckte, auf dessen Wirkung er jedoch ungeduldig wartete.
»Ich habe dich vermisst, weiter nichts. Bertrand hat Scherze erzählt.« Teresa errötete. »Aber die kann ich unmöglich wiedergeben, jedenfalls nicht hier.« Ein Lächeln, ihr schelmisches Lächeln, stahl sich auf ihr Gesicht. »Vielleicht erzähle ich sie dir, sobald wir zu Hause sind.«
Er lächelte geziert, während seine Gedanken bereits zu gewichtigen Dingen abschweiften. »Vorausgesetzt, ich komme früh genug zurück. Ich muss heute Abend noch einen neuen Stoß Nachrichten fertig machen. Es ist etwas« – er zwang sich, das Getrommel seiner Finger auf dem Schreibtisch sein zu lassen –, »etwas Wichtiges, etwas Folgenschweres vorgefallen.«
Gespannt beugte Teresa sich vor. »Was denn?«
»Dein Haar wächst sehr schön aus, Tess.« Es war gerade so lang, wie ihre gegenwärtige Stellung dies zuließ. Er konnte es sich nicht verkneifen, ständig darauf hinzuweisen. »Ich glaube allerdings, es wird noch beträchtlich länger wachsen müssen.«
»Dalton…« Ihre Augen weiteten sich, während sie darüber nachdachte, was er nur gemeint haben konnte, zugleich nahm ihr Gesicht einen leicht verwirrten Ausdruck an, denn sie vermochte sich nicht vorzustellen, was unter den gegenwärtigen Umständen die Erfüllung seiner lang gehegten Ziele so plötzlich ermöglicht haben sollte. »Dalton, hat das etwas zu tun mit – mit dem, wovon du mir stets erzählt hast …?«