»Danke, Captain, aber jetzt habe ich keine Zeit.«
»Verstehe, Lord Rahl. Ich war so frei, ihnen genau das mitzuteilen.« Er hantierte mit seinen kleinen Zetteln herum. »Eine von ihnen war eine Frau.« Er kniff im schwachen Kerzenschein die Augen zusammen, um den Namen entziffern zu können. »Franca Gowenlock. Sie behauptete, es sei äußerst wichtig, wollte aber weiter nichts sagen. Sie hat fast den ganzen Tag gewartet. Schließlich meinte sie, sie müsse zurück nach Hause, würde aber morgen noch einmal herkommen.«
»Wenn es wirklich so wichtig ist, wird sie wieder kommen, dann spreche ich mit ihr.«
Richard warf einen Blick auf Du Chaillu, um zu sehen, wie sie sich fühlte. Kahlans Zuwendung schien sie zu beruhigen.
Hinter ihm entstand plötzlich ein Tumult. Der Captain kippte, wie von Magie gefällt, mit einem Aufschrei nach hinten. Die Kerze begann wild zu flackern, als ein plötzlicher Luftzug ins Zeltinnere drang, erlosch aber nicht.
Als er hinter sich einen dumpfen Schlag hörte, wirbelte Richard herum. Die Kerze tanzte über die Platte des schwankenden Tisches bis kurz vor die Kante.
Ein riesiger Rabe war ungeschickt und mit lautem Krachen auf der Tischplatte gelandet.
Richard wich überrascht zurück, zog im Aufstehen sein Schwert und wünschte sich ein weiteres Mal, es wäre das Schwert der Wahrheit mit der ihm innewohnenden Magie. Kahlan und Du Chaillu waren im Nu auf den Beinen.
Der Rabe hatte etwas Schwarzes in seinem Schnabel. In all dem Durcheinander – dem Durchzug, der beinahe umgestürzten Kerze, dem Flackern der Flamme, dem Wanken des Tisches und dem Schlagen der Zeltwände – erkannte er den Gegenstand im Schnabel des Raben nicht sofort.
Der Rabe legte ihn auf den Tisch.
Der tiefschwarze Vogel, von dessen glänzend schwarzem Gefieder das Wasser perlte und mit dem die Nacht selbst in ihr Zelt gedrungen zu sein schien, wirkte erschöpft. Wie er ausgestreckt mit offenen Flügeln auf dem Tisch lag, hatte Richard den Eindruck, er sei nicht ganz gesund – vielleicht hatte er sich verletzt.
Richard wusste nicht, ob ein von den Chimären besessenes Wesen sich überhaupt verletzen konnte. Er musste an das blutende Huhn, das keines war, denken. Dann sah er den Blutfleck auf dem Tisch.
Wann immer die im Huhn verborgene Chimäre in der Nähe gewesen war, hatten sich Richards Nackenhaare gesträubt, auch wenn er sie gar nicht sehen konnte. Doch auf diesen Raben, der keiner war, und der unmittelbar vor ihm auf dem Tisch hockte, reagierte er nicht so.
Der Rabe legte den Kopf auf die Seite und blickte Richard in die Augen. Noch nie war Richard so eindringlich angesehen worden. Der Vogel tippte mit seinem Schnabel auf den Gegenstand, den er auf den Tisch gelegt hatte.
Captain Meiffert sprang auf und nahm Maß mit seinem Schwert. Im selben Augenblick riss Richard die Arme hoch und brüllte: »Nicht!«
Als das Schwert herabfuhr, stürzte sich der Rabe vom Tisch auf den Boden und rannte zwischen den Beinen des Captains hindurch. Unmittelbar hinter dem Mann stieg er auf und war verschwunden.
»Tut mir Leid«, meinte der Captain. »Ich dachte – ich dachte, er wollte Euch mit Magie attackieren, Lord Rahl. Ich dachte, er sei ein Wesen Schwarzer Magie, das gekommen ist, um Euch anzugreifen.«
Richard atmete tief aus und gab dem Mann mit einer Geste zu verstehen, dass er ihm verzieh; er hatte schließlich nur versucht, ihn zu beschützen.
»Er war nicht böse«, meinte Du Chaillu ruhig, als sie und Kahlan näher traten.
Richard sank auf seinen Schemel zurück. »Nein, das war er wohl nicht.«
Kahlan und Du Chaillu standen hinter ihm und sahen ihn an.
»Welches Omen hat dir der Bote der Seelen überbracht?« wollte die Seelenfrau wissen.
»Ich glaube kaum, dass er aus der Welt der Seelen stammte«, erwiderte Richard.
Er nahm den kleinen schwarzen Gegenstand in die Hand. Im trüben Licht erkannte er plötzlich, was es war. Ungläubig starrte er darauf.
Es sah genauso aus wie jenes, das Schwester Verna früher stets bei sich getragen hatte. Zahllose Male hatte sie es benutzt.
»Es ist ein Reisebuch.«
Er schlug den Einband auf.
»Das muss Hoch-D’Haran sein«, meinte Kahlan angesichts der eigenartigen Schrift.
»Gütige Seelen«, meinte Richard leise, als er die einzigen beiden Worte auf der allerersten Seite las.
»Was ist?«, wollte Kahlan wissen.
»Fuer Berglendursch. Du hast Recht. Es ist Hoch-D’Haran.«
»Weißt du, was es bedeutet?«
»Hier steht: ›Der Berg‹.« Richard drehte sich um und sah im flackernden Schein der Kerze zu ihr hoch. »Das war Joseph Anders Spitzname. Dies ist das Reisebuch von Joseph Ander. Das andere, das zerstört wurde, sein Gegenstück, hieß Des Berges Zwilling.«
62
Lächelnd stand Dalton vor einem achteckigen Tisch aus kostbarem Walnussholz im Reliquiar des Büros für Kulturelle Zusammenarbeit, an dessen vier Wänden Gegenstände ausgestellt waren, die ehemaligen Direktoren gehört hatten: Amtsroben; kleine Werkzeuge und Utensilien ihres Berufes, wie Schreibfedern, wundervoll geschnitzte Tintenlöscher und Handschriften. Dalton war damit beschäftigt, Schriften jüngeren Datums durchzusehen: Berichte, die er von den Direktoren angefordert hatte.
Falls die Direktoren zwiespältige Gefühle deswegen hegten, so behielten sie diese für sich. Nach außen hin stürzten sie sich geradezu auf die Aufgabe, den neuen Herrscher zu unterstützen. Man hatte ihnen zu verstehen gegeben, ihre nackte Existenz hänge derzeit nicht nur von ihrer Loyalität, sondern auch von der Begeisterung ab, mit der sie dieser aufopferungsvollen Verehrung nachgingen.
Dalton las gerade das Manuskript der Ansprachen durch, die sie halten sollten, als er sich von den durch das auf den städtischen Platz hinausgehende Fenster hereinkommenden Rufen belästigt fühlte. Dem Geräusch nach handelte es sich um einen aufgebrachten Mob. Nach den lauten Anfeuerungsrufen der Menge zu urteilen, hielt vermutlich gerade jemand eine Schmährede gegen Lord Rahl und die Mutter Konfessor.
Dem Beispiel bekannter Persönlichkeiten wie den Direktoren folgend, waren jetzt auch gewöhnliche Bürger dazu übergegangen, lauthals jene maßgefertigten Meinungen zu verkünden, die man ihnen eingetrichtert hatte. Dalton hatte zwar nichts anderes erwartet, dennoch erstaunte es ihn immer wieder, dass er etwas nur oft genug – und von genügend Personen – wiederholen zu lassen brauchte, bis es zur allseits anerkannten Wahrheit wurde, deren Ursprung sich im Dunkeln verlor, sobald das gemeine Volk sie in der festen Überzeugung nachplapperte, sie sei auf seinem eigenen Mist gewachsen – als sei es geradezu die Regel, dass diesen geistlosen Klotzköpfen originelles Gedankengut entspränge.
Dalton schnaubte bitter, voller Verachtung. Es waren Esel, die das Schicksal, das sie willig akzeptierten, verdient hatten. Jetzt gehörten sie der Imperialen Ordnung. Oder würden dies zumindest bald tun.
Er blickte aus dem Fenster und sah, wie sich eine Menschenmenge ihren Weg auf den Platz bahnte. Die heftigen Regenfälle der vergangenen Nacht waren in einen leichten Nieselregen übergegangen, daher trauten die Menschen sich wieder auf die Straße. Dem anhaltenden dichten Regen war es über Nacht nicht gelungen, die schwarz verkohlten Stellen auf dem Pflaster des Platzes fortzuwaschen, wo die beiden Menschen verbrannt waren.
Natürlich gab die Menge der Magie des Lord Rahl, die ihrem Zorn gegen sie Luft gemacht habe, die Schuld an der Tragödie. Dalton hatte seine Leute angewiesen, diesen Vorwurf voller Bitterkeit zu erheben, wohl wissend, dass die Bedeutung der Beschuldigung weit schwerer wog als der Mangel an Beweisen, von der Wahrheit ganz zu schweigen.
Was tatsächlich vorgefallen war, wusste Dalton nicht. Er wusste aber, es war bei weitem nicht der erste Zwischenfall dieser Art. Wie auch immer, es handelte sich um einen schrecklichen Unglücksfall, doch wenn es schon zu einem Unglück kommen musste, dann hätte es sich kaum einen geeigneteren Zeitpunkt aussuchen können. Es hatte einen perfekten Schlusspunkt unter Direktor Prevots Rede gesetzt.