Eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand bahnte sich, diesen hinter sich herzerrend, gewaltsam einen Weg bis zur vordersten Reihe der Menge. »Mein Name ist Nora«, verkündete sie den Umstehenden. »Das ist mein Sohn Bruce. Er ist alles, was mir geblieben ist, und schuld sind diese Hexen! Mein Mann Julian ist wegen des bösen Fluches einer Hexe ertrunken! Meine wunderschöne Tochter Bethany wurde durch den Bann einer Hexe bei lebendigem Leibe verbrannt!«
Der Junge, Bruce, bestätigte dies murmelnd und weinte um seinen Vater und seine Schwester. Serin Rajak hielt den Arm der Frau in die Höhe.
»Hier seht ihr ein Opfer der Hexerei des Hüters.« Er zeigte auf eine weinende Frau ganz vorne in der Menge. »Dort ist ein weiteres! Vielen von euch hier wurde durch Flüche und Zaubereien von Hexen Leid zugefügt! Von Hexen, die sich der Gottlosigkeit des Hüters der Toten bedienen!«
Angesichts einer derart bedrohlich aufgebrachten Menge war Dalton klar, dass die Sache kein gutes Ende nehmen konnte, trotzdem hatte er keine Idee, wie er das Geschehen aufhalten konnte.
Schließlich hatte er Serin Rajak aus genau diesem Grund auf freien Fuß gesetzt: um den Zorn gegen jene anzustacheln, die Magie besaßen. Er war darauf angewiesen, dass die Menschen gegen die mit Magie aufgewiegelt wurden und sie als böse betrachteten. Wer war besser geeignet, diesen Hass zu schüren, als ein Eiferer?
»Und hier haben wir die Hexe!« Serin Rajaks Arm schoss vor und zeigte auf die Frau, der man die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, die Frau, die Stein bei den Haaren hielt. »Sie ist das schändliche Werkzeug des Hüters! Sie spricht verderbte Banne aus, um euch allen Schaden zuzufügen!«
Der Mob johlte und schrie nach Rache.
»Was sollen wir mit dieser Hexe tun?«, kreischte Rajak.
»Verbrennt sie! Verbrennt sie! Verbrennt sie!«, erscholl monoton die Antwort.
Serin Rajak warf die Arme gen Himmel. »Gütiger Schöpfer, wir vertrauen diese Frau deiner Obhut in den Flammen an. Ist sie unschuldig, erspart ihr das Leid. Ist sie des Verbrechens der Hexerei schuldig, dann verbrenne sie!«
Während einige Männer einen Pfahl errichteten, drückte Stein seine Gefangene mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Mit einer Hand riss er ihren Kopf an den Haaren hoch, mit der anderen hob er sein Messer.
Dalton, die Augen weit aufgerissen, konnte weder blinzeln noch denken, als er mit ansehen musste, wie Stein – von einem Ohr zum anderen, quer über die Stirn der Frau – einen Schnitt anbrachte. Ihr Schrei schien Daltons Eingeweide zu zerfetzen, als Stein ihren Skalp nach hinten riss.
Tränen liefen Dalton über die Wangen, so wie das Blut über Francas Gesicht. Vor Schmerz und unvorstellbarem Entsetzen schreiend, wurde sie hochgehoben und an den Pfahl gefesselt. Das Weiße in ihren Augen schien aus einer blutigen Maske hervorzutreten.
Franca versuchte weder ihre Unschuld zu beteuern noch um ihr Leben zu betteln. Gelähmt vor Entsetzen, konnte sie nichts als schreien.
Um sie herum wurden Stroh und Holz übereinander geworfen. Der Mob drängte nach vorn, wollte ganz nah sein, wollte alles sehen. Einige streckten die Hand aus, um verstohlen ihr blutüberströmtes Gesicht zu streifen, gierig nach einer Erinnerung aus Hexenblut an ihren Fingerspitzen, die ihre Macht bewies, bevor sie sie zum Hüter jagten.
Das Grauen schien ihn an der Kehle zu packen, als Dalton ein Stück die Treppe hinunterwankte.
Männer mit Fackeln bahnten sich grob einen Weg nach vorn, mitten durch den johlenden Mob. Serin Rajak, außer sich vor Wut, erklomm den Haufen aus Holz und Stroh zu ihren Füßen, um Franca ins Gesicht zu brüllen, sie mit jeder nur erdenklichen Gemeinheit zu beschimpfen und sie übelster Verbrechen zu beschuldigen.
Dalton stand auf den Stufen und wusste, dass jedes Wort gelogen war, denn Franca war keines dieser Wesen.
Genau in diesem Augenblick geschah etwas höchst Außergewöhnliches. Ein Rabe stürzte aus dem grauen Himmel herab und bohrte seine wütenden Krallen in Serin Rajaks Haar.
Serin schrie, er sei ein Vertrauter der Hexe, gekommen, um seine Herrin zu beschützen. Die Menge reagierte, indem sie den Vogel mit Gegenständen bewarf, während Serin ihn abzuwehren versuchte. Der Vogel schlug kreischend mit den Flügeln, klammerte sich aber im Haar des Mannes fest.
Mit einer beängstigenden Entschlossenheit, dass Dalton bereits glaubte, der Vorwurf, er sei ein Vertrauter der Hexe, sei wahr, bohrte der tiefschwarze Vogel seinen Schnabel in Serins gesundes Auge und stach es heraus.
Vor Wut und Schmerz schreiend, stürzte der Mann von dem leicht entzündlichen Holz rings um Franca herunter. Im selben Augenblick legte der Mob die Fackeln an.
Ein Wehklagen, wie Dalton es noch nie zuvor gehört hatte, erhob sich von der armen Franca, als die Flammen durch das trockene Stroh hindurch an ihrem Körper in die Höhe schossen. Dalton konnte das verschmorte Fleisch riechen.
Und dann wandte Franca, vom Grauen gepackt, von Schmerzen gequält, inmitten der Flammen sterbend ihren Kopf herum und sah Dalton auf den Stufen stehen.
Sie kreischte seinen Namen. Im Getöse der Menge konnte er ihn nicht verstehen, ihn ihr aber von den Lippen ablesen.
Sie schrie ihn erneut und schrie, sie liebe ihn.
Als Dalton diese Worte von ihren Lippen ablas, zerriss es ihm fast das Herz.
Die Flammen überzogen ihren Körper mit Blasen, bis der aus ihren Lungen hervorgepresste Schrei klang wie das Kreischen der verlorenen Seelen in der Welt der Toten.
Dalton stand da wie betäubt und starrte. Erst in diesem Augenblick wurde er sich bewusst, dass er sich die Hände gegen die Ohren presste und selber schrie.
Die Menge wogte nach vorn, versessen darauf, das brennende Fleisch zu riechen, die Haut der Hexe brennen zu sehen. Sie waren außer sich vor Erregung, in ihren Augen stand der Wahn. Als der Mob vorwärts drängte, wurden die vorne Stehenden so nahe ans Feuer gedrückt, dass es ihnen die Augenbrauen versengte, und selbst das genossen sie, solange die Hexe schreiend brannte.
Unterdessen pickte der Rabe wie besessen auf den geblendeten, fast vergessenen, am Boden liegenden Serin Rajak ein. Der ruderte blind mit den Armen und versuchte den rachsüchtigen Vogel zu vertreiben. Zwischen seinen Armen hindurchschießend, schnappte der große Schnabel des Raben nach seinem Fleisch, drehte und zerrte es ihm Stück für Stück aus dem Gesicht.
Die Menge ging erneut dazu über, den Vogel mit allem zu bewerfen, was griffbereit lag. Der Vogel, dem schließlich die Kräfte auszugehen schienen, schlug hilflos mit den Flügeln.
Aus Gründen, die er selbst nicht begriff, ertappte Dalton sich dabei, wie er dem Vogel unter Tränen zujubelte, obwohl er doch wusste, dass er ebenfalls sterben würde.
Gerade als das Ende des heldenhaften, rächenden Raben gekommen schien, stürmte ein reiterloses Pferd auf den Platz. Eingeschlossen vom Mob, bäumte es sich wütend auf und stieß die Menschen beiseite. Es wirbelte herum und trat aus, verletzte Menschen, brach Knochen, zertrümmerte Schädel. Die Menschen wichen zurück, als das goldfarbene, kastanienbraune Pferd, die Ohren angelegt und mit einem wutschnaubenden Wiehern, mitten unter die Menschen raste. Verängstigte Menschen versuchten zurückzuweichen, waren aber wegen des Drucks der anderen hinter ihnen außerstande, Platz zu machen.
Das Pferd schien vor Wut den Verstand verloren zu haben, es trampelte jeden in seinem Weg nieder, um in die Mitte des Platzes zu gelangen. Dalton hatte noch nie gehört, dass ein Pferd auf ein Feuer zugerannt wäre.
Als es die Mitte der wogenden Menschenmenge erreichte, gelang es dem in einem letzten verzweifelten Aufbäumen mit seinen Flügeln schlagenden Raben auf den Rücken des Pferdes zu springen. Als das Pferd sich herumdrehte, glaubte Dalton für einen Augenblick noch einen weiteren Vogel auf seinem Rücken sitzen zu sehen, als wären es deren zwei, dann aber erkannte er, dass der zweite lediglich ein schwarzer Fleck auf dem Hinterteil des Pferdes war.