Nissel zuckte mit den Achseln. »Ich habe die Mutter monatelang beobachtet. Alles schien auf ein freudiges Ereignis hinzudeuten. Ich habe keine Schwierigkeiten vorausgesehen, trotzdem wurde das Kind tot geboren.«
»Wie geht es der Mutter?« fragte Kahlan.
Nissel senkte den Blick zum Boden. »Im Augenblick weint sie sich das Herz heraus, aber bald wird es ihr wieder gutgehen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nicht alle Kinder sind stark genug, zu überleben. Die Frau wird andere bekommen.«
Als das Gespräch beendet schien, beugte Richard sich vor. »Was hat sie gesagt?«
Kahlan stampfte zweimal fest auf, um den Tausendfüßler abzuschütteln, der ihr Bein heraufkrabbelte. »Das Baby war einfach nicht kräftig genug und kam tot zur Welt.«
Er blickte stirnrunzelnd zu dem traurigen Bündel hinüber. »Nicht kräftig genug…«
Kahlan beobachtete, wie er den winzigen Körper anstarrte, reglos, blutleer, irgendwie unwirklich. Ein neugeborenes Kind war ein Wesen von grenzenloser Schönheit, dieses Wesen jedoch, dem die Seele fehlte, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, damit es auf dieser Welt verweilen konnte, war blanke Häßlichkeit.
Kahlan erkundigte sich, wann Juni begraben werden sollte. Eine der beiden Frauen blickte zu dem winzigen toten Leichnam hinüber. »Jetzt müssen wir noch einen weiteren Toten präparieren. Sie werden beide morgen ihrer ewigen Ruhe übergeben werden.«
Beim Hinausgehen wandte Richard den Kopf und blickte hinauf in den sturzbachartigen Regen. Über ihm in der flachen Traufe hockte ein Huhn und plusterte sein Federkleid auf. Richards Blick verweilte einen Augenblick auf dem Tier.
Die Gedankengänge, die seinem Gesicht so deutlich anzusehen waren, gingen über in Entschlossenheit.
Richard spähte den Durchgang hinauf. Er pfiff und winkte mit einem Arm. Die Jäger, ihre Bewacher, kamen angetrabt. Als sie vor ihm standen, packte Richard mit seiner großen Hand Kahlans Arm. »Erklär ihnen, ich möchte, daß sie noch mehr Männer holen gehen. Sie sollen sämtliche Hühner zusammentreiben…«
»Was?!« Kahlan riß ihren Arm los. »Darum werde ich sie nicht bitten, Richard. Sie werden denken, du hast den Verstand verloren!«
Zedd schob seinen Kopf zwischen die beiden. »Was ist denn?«
»Er will, daß die Männer sämtliche Hühner zusammentreiben, weil eines von ihnen über der Tür hockt.«
»Als wir ankamen, war es noch nicht da. Ich habe selbst nachgesehen.«
Zedd drehte sich um und blinzelte in den Regen. »Was für ein Huhn?«
Kahlan und Richard sahen beide ebenfalls nach – das Huhn war verschwunden.
»Wahrscheinlich hat es sich auf die Suche nach einem trockeneren Schlafplatz gemacht«, murrte Kahlan. »Oder einen, wo es ungestörter ist.«
Zedd wischte sich den Regen aus den Augen. »Richard, ich will wissen, was hier gespielt wird.«
»Vor dem Seelenhaus wurde ein Huhn getötet. Juni spie auf die Ehre dessen, der dieses Huhn getötet hat, kurz darauf kam Juni ums Leben. Ich warf mit einem Stock nach dem Huhn im Fenster, und kurz darauf griff es den kleinen Jungen an. Es war meine Schuld, daß Ungi so zerkratzt wurde. Ich möchte denselben Fehler nicht noch einmal machen.«
Zu Kahlans Überraschung blieb Zedd ganz ruhig. »Richard, du verbindest zwei gähnende logische Abgründe mit einem Geflecht aus äußerst fadenscheinigen Argumenten.«
»Der Vogelmann meinte, eines der Hühner sei gar kein Huhn.«
Zedd runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«
»Er war betrunken«, gab Kahlan zu bedenken.
»Du hast mich zum Sucher ernannt, Zedd. Solltest du den Wunsch haben, deinen Entschluß noch einmal zu überdenken, dann tu es jetzt. Wenn nicht, dann laß mich meine Arbeit machen. Wenn ich mich irre, kannst du mich hinterher belehren.«
Richard nahm Zedds Schweigen als Zustimmung und ergriff abermals Kahlans Arm, wenn auch ein wenig zarter als beim ersten Mal. Entschlossenheit funkelte in seinen grauen Augen.
»Bitte tu, was ich sage, Kahlan. Wenn ich mich irre, werde ich wie ein Narr dastehen, aber ich stehe lieber wie ein Narr da, als daß ich recht habe und nichts unternehme.«
Was immer das Huhn getötet hatte, hatte dies unmittelbar vor dem Seelenhaus getan, in dem sie sich befunden hatten. Das war der Wollstrang, aus dem Richard seinen Wandteppich der Bedrohung gewoben hatte. Kahlan vertraute auf Richard, nahm aber an, er lasse sich nur von der Sorge um sie hinreißen.
»Was soll ich den Männern erklären?«
»Ich möchte, daß die Männer die Hühner einsammeln. Sie sollen sie in das Gebäude bringen, das den bösen Seelen vorbehalten ist. Ich möchte, daß die Hühner bis auf das letzte Tier dort zusammengetrieben werden. Anschließend können wir den Vogelmann bitten, sie sich anzusehen und uns mitzuteilen, welches von ihnen gar kein Huhn ist. Auch möchte ich, daß die Männer beim Einsammeln der Hühner behutsam und höflich vorgehen. Ich will unter keinen Umständen, daß jemand sich irgendeinem der Hühner gegenüber respektlos zeigt.«
»Respektlos«, wiederholte Kahlan. »Gegenüber einem Huhn.«
»Sehr richtig.« Richard musterte die wartenden Jäger, dann sah er ihr fest in die Augen. »Erklär den Männern, daß ich befürchte, eines der Hühner könnte von jener bösen Seele besessen sein, die Juni getötet hat.«
Kahlan wußte nicht, ob Richard daran glaubte, aber sie wußte ohne jeden Zweifel, daß es die Schlammenschen glauben würden.
Sie blickte Zedd ratsuchend in die Augen, fand aber keinen; Anns Miene hatte auch nicht mehr zu bieten. Cara war auf Richard eingeschworen; zwar mißachtete sie gewohnheitsmäßig Befehle, die sie für unwichtig hielt, aber wenn Richard darauf bestand, würde sie sich für ihn von einer Klippe stürzen.
Richard würde niemals klein beigeben. Dolmetschte Kahlan nicht für ihn, würde er sich auf die Suche nach Chandalen machen, der dies bestimmt gern für ihn übernähme. Scheiterte auch das, würde er, falls nötig, die Hühner selbst einsammeln.
Wenn man nicht tat, was er verlangte, bewies man bestenfalls einen Mangel an Glauben in ihn; das allein überzeugte sie schließlich.
Kahlan stand fröstelnd im eiskalten Regen und blickte Richard ein letztes Mal in seine grauen Augen, dann wandte sie sich an die wartenden Jäger.
8
»Hast du die böse Seele schon entdeckt?« Kahlan sah über die Schulter und stellte fest, daß es Chandalen war, der sich vorsichtig einen Weg durch das dichte Gedränge gackernder Hühner bahnte. Das gedämpfte Licht tat ein übriges, die Hühnerschar auf dem engen Raum einigermaßen ruhig zu halten. Es gab einige Rote sowie eine geringe Anzahl anderer Art, die meisten der Hühner der Schlammenschen gehörten jedoch der Felsstreifenrasse an, eine Sorte, die zahmer war als die meisten anderen. Das war auch gut so, denn ansonsten hätte der Höllenlärm leicht in ein federreiches Chaos ausarten können.
Kahlan wollte schon die Augen verdrehen, als sie mitbekam, wie Chandalen den Vögeln, die er mit dem Fuß aus dem Weg schob, albern anmutende Entschuldigungen zumurmelte. Sie hätte sich beinahe über sein lachhaftes Verhalten lustig gemacht, wäre da nicht sein beunruhigender Aufzug gewesen, mit dem langen Messer an seiner linken Hüfte, einem kurzen an der rechten, einem gefüllten Köcher über der einen Schulter und einem bespannten Bogen über der anderen.
Noch besorgniserregender war, daß an einem Haken seines Gürtels eine zusammengerollte troga hing. Eine troga war ein einfacher Draht, gerade lang genug, um ihn zu einer Schlaufe zu drehen und über den Kopf eines Mannes zu streifen. Sie wurde von hinten übergelegt und die hölzernen Griffe anschließend ruckartig auseinandergezogen. Ein Mann von Chandalens Fähigkeiten vermochte eine troga mühelos genau über den Gelenken im Genick eines Mannes anzusetzen und ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er einen Laut von sich geben konnte.
Bei ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Armee der Imperialen Ordnung, die die Stadt Ebinissia überfallen und die unschuldigen Frauen und Kinder dort niedergemetzelt hatte, hatte Kahlan mehr als einmal beobachten können, wie Chandalen feindliche Posten und Soldaten mit seiner troga enthauptete. Für einen Kampf gegen böse Seelen von Hühnermonstern hatte er seine troga gewiß nicht angelegt.