Kahlan gab zu bedenken, daß Hühner ständig im Dreck herumpickten, zudem regne es, und der Boden sei aufgeweicht, daher habe es sich wahrscheinlich um Schmutz gehandelt. Außerdem habe vermutlich mehr als nur ein Vogel Schmutz am Schnabel. Er sei einfach abgewaschen worden, als man die Hühner durch den Regen in die Häuser getragen habe.
Die Schlammenschen waren absolut sicher, sämtliche Hühner im Dorf eingesammelt zu haben, demzufolge müsse das Huhn, das er suchte, eines der Tiere in den drei Häusern sein. Richard wußte darauf keine Antwort.
Sie fragte ihn, wieso dieses eine – von den Toten auferstandene – Huhn ihnen den ganzen Tag gefolgt sein sollte. Zu welchem Zweck? Auch darauf wußte Richard keine Antwort.
Kahlan wurde klar, daß sie keine große Hilfe gewesen war. Sie wußte, Richard neigte nicht dazu, sich in Phantasien zu flüchten. Seine Hartnäckigkeit hatte im Grunde nichts mit Dickköpfigkeit zu tun und auch nicht den Zweck, sie zu verärgern.
Sie hätte aufmerksamer zuhören sollen, mit mehr Feingefühl. Sie war seine Frau. Wenn er sich nicht auf sie verlassen konnte, auf wen dann? Kein Wunder, daß er nicht bei Laune gewesen war, sie zu lieben. Andererseits, ein Huhn…
Kahlan stieß die Tür auf und wurde von einem regennassen Windstoß empfangen. Cara war zu Bett gegangen, doch die Jäger, die das Seelenhaus bewachten, erblickten sie, kamen herbeigeeilt und scharten sich um sie. Ihre Augen starrten in ihr von der Kerze beschienenes Gesicht, das in der regengetränkten Dunkelheit zu schweben schien. Jedesmal, wenn es knisternd blitzte, nahmen ihre glänzenden Körper auf gespenstische Weise Gestalt an.
»In welche Richtung ist Richard gegangen?« erkundigte sie sich.
Die Männer kniffen stumm die Augen zusammen.
»Richard«, wiederholte sie. »Im Haus ist er nicht. Er ist vor kurzem aufgebrochen. In welche Richtung ist er gegangen?«
Einer der Männer blickte seine Gefährten nacheinander prüfend an, bevor er sprach; sie alle hatten ihm mit einem Kopfschütteln geantwortet.
»Wir haben niemanden gesehen. Es ist dunkel, trotzdem hätten wir ihn bemerkt, wenn er das Haus verlassen hätte.«
Kahlan seufzte. »Vielleicht auch nicht. Richard war früher Waldführer, die Nacht ist sein Element. Er kann sich auf dieselbe Weise unsichtbar machen wie ihr draußen im Gras.«
Die Männer quittierten diese Information, nicht im geringsten daran zweifelnd, mit einem Nicken. »Dann befindet er sich irgendwo dort draußen, aber wo, wissen wir nicht. Manchmal ist Richard mit dem Zorn wie eine Seele. Er gleicht keinem anderen Mann, den wir je zu Gesicht bekommen haben.«
Kahlan lächelte still in sich hinein. Richard war ein ungewöhnlicher Mensch – das Merkmal eines Zauberers.
Die Jäger hatten ihn vor einiger Zeit zum Pfeilschießen mitgenommen, und er hatte sie damit in Erstaunen versetzt, daß er alle ihre Pfeile zerstörte, die er abschoß. Er hatte sie alle, einen nach dem anderen, in das Zentrum der Zielscheibe gejagt, wobei jeder den jeweils vorangegangenen spaltete.
Richards Gabe hatte seine Pfeile gelenkt, auch wenn er selbst nicht daran glaubte. Er hielt es schlicht für eine Frage von Übung und Konzentration. »Das Ziel herbeirufen«, nannte er es. Er behauptete, das Ziel zu sich zu rufen, bis alles andere verschwand, und sobald er dann spürte, wie der Pfeil diesen speziellen Punkt in der Luft fand, schoß er ihn ab. Er benötigte dazu nicht mehr als die Dauer eines Lidschlags.
Als er Kahlan das Pfeilschießen beibrachte, hatte sie zugeben müssen, manchmal selbst zu spüren, was er meinte.
Einmal hatte das, was er ihr beigebracht hatte, ihr sogar das Leben gerettet.
Die große Achtung, die die Jäger vor Richard hatten, war nur zum Teil auf das Abschießen der Pfeile zurückzuführen. Es war nicht schwer, Achtung vor Richard zu haben. Wenn sie behauptete, er könne sich unsichtbar machen, dann hatten sie keinen Grund, daran zu zweifeln.
Dabei hätte alles um ein Haar überaus schlecht angefangen. Damals, als Kahlan ihn zu den Schlammenschen gebracht hatte und sie sich draußen in der Ebene zum ersten Mal begegnet waren, hatte Richard die Begrüßung mittels einer Ohrfeige mißverstanden und Savidlin, einem ihrer Führer, einen deftigen Schlag versetzt. Ohne es zu wollen, hatte er damit ihrer Stärke größten Respekt gezollt und einen wertvollen Freund gewonnen, sich aber auch den Namen ›Richard mit dem Zorn‹ eingehandelt.
Kahlan wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Also gut. Ich will ihn finden.« Sie deutete hinaus in die Dunkelheit. »Jeder von euch schlägt eine andere Richtung ein. Findet ihr ihn, erklärt ihr ihm, daß ich ihn sprechen will. Seht ihr ihn nicht, treffen wir uns, nachdem ihr in eurer Richtung gesucht habt, wieder hier und brechen anschließend in andere Richtungen auf, so lange, bis wir ihn gefunden haben.«
Sie begannen Einwände vorzubringen, doch Kahlan erklärte ihnen, sie sei müde und wolle zurück ins Bett, außerdem wolle sie ihren frischgebackenen Ehemann in ihrer Nähe wissen. Sie bat sie inständig, ihr doch bitte einfach zu helfen, da sie sich sonst allein auf die Suche machen müsse.
Ihr fiel auf, daß Richard genau dies tat: er hatte sich allein auf die Suche gemacht, weil niemand ihm Glauben schenkte.
Widerstrebend willigten die Männer ein; sie zerstreuten sich in unterschiedliche Richtungen und waren alsbald verschwunden. Ohne die schweren Stiefel bereitete es ihnen erheblich weniger Mühe, durch den Schlamm zu waten.
Kahlan zog ihre Stiefel aus und warf sie neben die Tür des Seelenhauses. Sie lächelte bei dem Gedanken, daß sie den Schlamm wenigstens so weit überlistet hatte.
In Aydindril gab es jede Menge Frauen, angefangen von Adligen, über Beamtinnen bis hin zu Beamtenfrauen, die, hätten sie die Mutter Konfessor in diesem Augenblick sehen können, barfuß, knöcheltief im Schlamm watend und naß bis auf die Knochen, in Ohnmacht gefallen wären.
Kahlan stapfte hinauf in den Schlamm und überlegte, ob Richard bei seiner Suche möglicherweise nach einer bestimmten Methode vorgegangen war. Richard tat selten etwas ohne Grund. Wie würde er es angehen, das gesamte Dorf allein im Dunkeln abzusuchen?
Kahlan überdachte ihre erste Überlegung noch einmal. Vielleicht war er zu dem Schluß gekommen, die Dinge, die sie, Zedd und Ann gesagt hatten, seien sinnvoll. Vielleicht war er überhaupt nicht auf der Suche nach einem Huhn. Aber was tat er dann mitten in der Nacht draußen?
Regen trommelte auf ihren Kopf, lief ihr an Hals und Rücken hinunter, machte sie frösteln. Ihr langes Haar, das sie mühselig getrocknet und ausgebürstet hatte, hatte sich inzwischen wieder mit Wasser vollgesogen. Das Hemd klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper; wie eine erbarmungswürdig kalte Haut.
Wohin mochte Richard gegangen sein?
Kahlan blieb stehen und hielt die Kerze in die Höhe.
Juni.
Vielleicht war er zu Juni gegangen. Sie spürte einen kummervollen Stich. Vielleicht war er sich das tote Baby ansehen gegangen. Vielleicht hatte er um die beiden trauern wollen.
Das wäre eine Handlungsweise, die man sich bei Richard vorstellen konnte. Möglicherweise hatte er im Namen der beiden Toten, die neu waren in der Welt der Seelen, zu den Guten Seelen beten wollen. Bei Richard war so etwas vorstellbar.
Kahlan lief in einen unsichtbaren Strahl eiskalten, von einem Dach ablaufenden Wassers und schnappte nach Luft, als dieser sie ins Gesicht traf und ihre Brust durchnäßte. Sie strich sich Strähnen nassen Haars aus dem Gesicht, spuckte einen Schwall Wasser aus und ging weiter. Sie war gezwungen, die Kerze in dem eiskalten Regen in die Höhe zu halten, daher waren ihre Finger taub. Doch von hier aus kannte sie den Weg.
Ein kleines Stück weiter erkannte sie die Tür des Hauses für die Toten, sie erblickte das altbekannte Mäuerchen mit den drei Kräutertöpfen. Hier in dieser Gegend wohnte niemand; es waren die Kräuter, die man für die nicht weit entfernt untergebrachten bösen Seelen züchtete. Sie fand mit ihren gefühllosen Fingern nestelnd die Klinke. Die im Regen aufgequollene Tür klemmte so stark, daß sie knarrte. Sie trat durch den Eingang und drückte die Tür behutsam hinter sich zu.