»O Richard«, flehte sie leise, »verzeih mir.«
Dann spürte sie etwas auf ihren Zehen. In dem trüben Licht reichte ein schneller Blick nicht, um sich Gewißheit zu verschaffen, sie glaubte jedoch, Käfer über ihre Füße krabbeln zu sehen. Sie fühlte, wie ihr einer mit winzigen Bewegungen am Knöchel hoch und unter das Hosenbein huschte. Sie stapfte mit dem Fuß auf, der Käfer hielt fest.
Sie bückte sich, um auf das Biest unter ihrem Hosenbein einzudreschen, doch sie schlug zu fest zu und zerquetschte es auf ihrer Haut.
Mit einer hektischen Bewegung richtete sie sich auf und schlug blind nach den Biestern, die mittlerweile auch in ihrem Haar herumkrabbelten. Als ihr ein Tausendfüßler in den Handrücken biß, entfuhr ihr ein spitzer Schrei, sie schüttelte ihn ab. Als er auf den Boden fiel, pickte das Huhn ihn auf und schlang ihn hinunter.
Plötzlich sprang das Huhn mit einem einzigen Flügelschlag zurück auf Juni. Seine Krallen arbeiteten in zügelloser Unmäßigkeit, während es sich langsam auf der Leiche drehte und sie ansah, sie eiskalt und interessiert aus einem schwarzen Auge betrachtete. Kahlan schob einen Fuß in Richtung Tür.
»Mutter…«, krächzte das Huhn.
Kahlan zuckte zusammen und schrie auf.
Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen; ihr Herz pochte so heftig, daß sie das Gefühl hatte, ihr Hals schwelle an. Als sie hinter sich nach der rauhen Plattform tastete, schürfte sie sich das Fleisch von den Fingern.
Ganz sicher hatte es nur einen Laut von sich gegeben, der wie das Wort ›Mutter‹ klang. Sie war die Mutter Konfessor und daran gewöhnt, das Wort ›Mutter‹ zu hören. Wahrscheinlich hatte sie einfach Angst und sich das alles nur eingebildet.
Der nächste Schrei entfuhr ihr, als ihr etwas in den Knöchel biß. Während sie auf einen Käfer eindrosch, der ihr in einen Ärmel krabbelte, stieß sie versehentlich die Kerze zu Boden; sie landete mit leisem Klirren auf der Erde.
Im Nu versank der Raum in tiefster Dunkelheit.
Sie wirbelte herum und versuchte wie von Sinnen etwas herunterzuschubsen, das sich zwischen ihren Schulterblättern in ihr Haar hinaufschlängelte. Nach dem Gewicht und dem Quieken zu urteilen, mußte es sich um eine Maus handeln; gnädigerweise wurde sie durch ihr Winden und Drehen heruntergeschleudert.
Kahlan erstarrte. Sie horchte, ob das Huhn sich von der Stelle gerührt hatte, ob es auf den Lehmboden gesprungen war. Bis auf das schnelle Rauschen des Pulses in ihren Ohren war es jedoch totenstill im Raum.
Sie begann Richtung Tür zu schleichen; während sie sich durch das faulige Stroh tastete, wünschte sie sich, sie hätte ihre Stiefel angezogen. Der Gestank raubte ihr fast den Atem, und sie zweifelte, ob sie sich jemals wieder sauber fühlen würde. Doch das war egal, solange sie nur lebend hier herauskam.
Das Hühnerwesen gab im Dunkeln ein leises, gackerndes Hühnerlachen von sich.
Es kam nicht von der Stelle, wo sie das Huhn vermutet hatte, plötzlich befand es sich hinter ihr.
»Bitte, ich habe nichts Böses im Sinn«, rief sie in die Dunkelheit. »Ich will nicht respektlos sein. Wenn du einverstanden bist, überlasse ich dich jetzt deinen Angelegenheiten.«
Sie machte einen weiteren schlurfenden Schritt in Richtung Tür und bewegte sich dabei vorsichtig, langsam, für den Fall, daß das Huhn ihr im Weg hockte. Sie wollte es nicht anstoßen und seinen Zorn wecken; auf keinen Fall durfte sie es unterschätzen.
Unzählige Male hatte Kahlan sich voller Ungestüm scheinbar unbesiegbaren Feinden entgegengeworfen. Sie war sich der Wirkung eines entschiedenen, brutalen Angriffs durchaus bewußt, irgendwie war ihr aber auch jenseits allen Zweifels klar, daß dieser Gegner sie, wenn er wollte, ebenso mühelos töten konnte, wie sie einem Huhn den Hals umzudrehen vermochte. Wenn sie auf einen Kampf drängte, würde sie ihn womöglich verlieren.
Sie stieß mit der Schulter gegen die Mauer. Blind nach der Tür tastend, ließ sie eine Hand über die verputzten Schlammziegel gleiten. Sie war nicht da. Sie tastete die Wand in alle Richtungen ab. Da war keine Tür.
Verrückt! Sie war durch die Tür hereingekommen, also mußte es eine Tür geben. Das hühnerähnliche Etwas gab ein leises Gackern von sich.
Schniefend unterdrückte Kahlan ihre Tränen der Angst, drehte sich um und preßte ihren Rücken gegen die Wand. Bestimmt hatte sie beim Herunterschleudern der Maus durch die Drehung die Orientierung verloren. Sie hatte sich gedreht, das war alles. Die Tür hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Aber in welcher Richtung lag dann die Tür?
Die Augen so weit wie möglich aufgerissen, versuchte sie in der undurchdringlichen Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein neuer Schrecken fraß sich bohrend in ihre Gedanken: Was, wenn das Huhn ihr die Augen auspickte? Was, wenn es gerade das besonders gerne tat? Einem die Augen auspicken.
Sie vernahm ihr eigenes, von panischer Angst erfülltes Schluchzen. Regen sickerte durch das Grasdach; als es ihr auf den Kopf tropfte, zuckte sie zusammen. Wieder blitzte es. Kahlan sah, wie die Helligkeit durch die Wand zu ihrer Linken drang. Dort war die Tür! Licht drang an den Seiten der Tür herein. Plötzlich donnerte es scheppernd.
Wie von Sinnen rannte sie zur Tür. In der Dunkelheit stieß sie mit der Hüfte gegen den Rand einer Plattform, an der gemauerten Ecke schrammte sie sich die Zehen auf. Reflexartig griff sie nach dem stechenden Schmerz. Auf ihrem anderen Fuß hüpfend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, trat sie auf einen harten Gegenstand. Ein glühendheißer Schmerz durchzog brennend ihren Fuß. Sie versuchte, sich irgendwo festzuhalten, und schreckte zurück, als sie die steife, kleine Leiche unter ihrer Hand spürte. Krachend schlug sie hin.
Leise fluchend stellte sie fest, daß sie auf den heißen Kerzenhalter getreten war. Sie hatte sich nicht wirklich daran verbrannt, sondern sich in ihrer panischen Angst eingebildet, heißes Metall versenge sie. Allerdings blutete ihr anderer Fuß vom Tritt gegen die Ziegel.
Kahlan atmete tief durch. Sie durfte auf keinen Fall in Panik geraten, ermahnte sie sich, oder sie wäre nicht mehr imstande, sich selber zu helfen. Niemand sonst konnte sie hier rausholen. Sie durfte nicht den Verstand verlieren und mußte die Nerven behalten, wenn sie aus dem Haus für die Toten entkommen wollte.
Noch einmal holte sie Luft. Sie brauchte nur die Tür zu erreichen, dann konnte sie das Haus verlassen und wäre in Sicherheit.
Sich Zoll um Zoll auf dem Bauch vorwärts schiebend, tastete sie den Lehmboden ab. Das Stroh war feucht, ob vom Regen oder von den ekelhaften Flüssigkeiten, die von den Plattformen herunterliefen, vermochte sie nicht zu sagen. Die Schlammenschen hatten Achtung vor den Toten, redete sie sich ein. Sie würden hier kein verschmutztes Stroh liegen lassen, es war bestimmt sauber. Nur warum stank es dann so?
Dank einer übermenschlichen Willensanstrengung gelang es Kahlan, die über sie hinweghuschenden Käfer nicht zu beachten. Als ihre Konzentration, die Ruhe zu bewahren, abzuschweifen begann, vernahm sie ein schwaches Wimmern, das aus ihrer eigenen Kehle stammte. Das Gesicht an den Boden gedrückt, sah sie den nächsten Blitz unter der Tür aufleuchten. Es war nicht mehr weit.
Sie wußte nicht, wohin das Huhn verschwunden war. Stumm betete sie, es möge zu Juni zurückgekehrt sein, um ihm die Augen auszupicken.
Beim nächsten Blitz erkannte sie jedoch, daß das Huhn zwischen ihr und dem Spalt unter der Tür stand. Das Biest war kaum mehr als einen Fuß von ihrem Gesicht entfernt!
Ganz langsam schob Kahlan ihre zitternde, hohle Hand vor die Stirn, um die Augen zu bedecken. Sie wußte, jeden Augenblick konnte das Hühnermonster ihr wie Juni die Augen auspicken; allein die bildhafte Vorstellung ließ sie aufstöhnen, die Vorstellung von Blut, das aus ihren leeren, von ausgefransten Rändern umsäumten Augenhöhlen strömte.
Sie würde erblinden, hilflos sein, nie wieder sehen, wie Richard sie aus seinen grauen Augen anlächelte.