Er sollte auch der Held der hakenischen Männer sein, denn er bringt euch Kultur, damit ihr eurem kriegerischen Wesen abschwören und in die Gemeinschaft der friedvollen Völker eintreten könnt. Vielleicht entscheide ich mich, der Armee beizutreten, denn sie bietet hakenischen Frauen eine Möglichkeit, sich Respekt zu verschaffen. So lautet das Gesetz. Das Gesetz von Minister Chanboor.«
Snip kam sich vor wie bei einer Bußversammlung. »Ich respektiere dich doch, Beata, auch wenn du nicht in der Armee bist. Ich weiß, du wirst Gutes für die Menschen tun, ob du nun der Armee beitrittst oder nicht. Du bist ein guter Mensch.«
Beata stockte das Herz. Sie zog eine Schulter zu einem leichten Achselzucken hoch. Der scharfe Unterton in ihrer Stimme wurde milder. »Du hast recht, der eigentliche Grund, weshalb ich eines Tages der Armee beitreten könnte, ist, daß ich den Menschen helfen und Gutes tun will. Ich möchte eben auch Gutes tun.«
Snip beneidete sie. In der Armee würde sie Gemeinden helfen können, die mit Schwierigkeiten, angefangen von Flutkatastrophen bis hin zu Hungersnöten, zu kämpfen hatten. Die Armee half den Bedürftigen. Wer in der Armee war, wurde respektiert.
Außerdem war es nicht mehr so wie früher, als es gefährlich sein konnte, in der Armee zu sein. Nicht, seit es die Dominie Dirtch gab. Sollten die Dominie Dirtch je entfesselt werden, konnten sie jeden Gegner in die Knie zwingen, ohne daß die Armee kämpfen mußte. Zum Glück hatten die Anderier die Verantwortung über die Dominie Dirtch und würden sich einer solchen Waffe nur zur Wahrung des Friedens bedienen – und niemals, um absichtlich jemandem Schaden zuzufügen.
Die Dominie Dirtch waren das einzige, was die Anderier von den Hakeniern übernommen hatten. Das anderische Volk wäre niemals imstande gewesen, aus eigener Kraft etwas Derartiges zu ersinnen – sie waren einfach nicht zu jenen widerwärtigen Überlegungen fähig, die erforderlich gewesen sein mußten, sich eine solche Waffe auszudenken. Nur Hakenier hatten eine Waffe von derart vollkommener Bosheit entwickeln können.
»Vielleicht kann ich auch darauf hoffen, daß man mich zum Arbeiten hierherschickt, so wie dich«, fügte Beata hinzu.
Snip hob den Kopf. Sie starrte zu den Fenstern im dritten Stock hinauf. Fast wäre ihm eine Bemerkung herausgerutscht, doch stattdessen schloß er den Mund. Den Blick auf die Fenster gerichtet, fuhr sie fort: »Er kam einmal in Ingers Laden, dabei bin ich ihm leibhaftig begegnet. Bertrand – ich meine Minister Chanboor, ist ein sehr viel reizvollerer Anblick als Inger, der Metzger.«
Snip wußte nicht, wie man solche Dinge bei einem Mann beurteilte. Das Getue, das Frauen angesichts von Männern veranstalteten, die er unansehnlich fand, war ihm ein Rätsel. Minister Chanboor war groß und früher vielleicht einmal gutaussehend gewesen, bekam jedoch in seinem dunklen anderischen Haar die ersten grauen Strähnen. Sämtliche Frauen in der Küche tuschelten kichernd über diesen Mann. Sobald er den Raum betrat, wurden einige von ihnen rot und mußten sich seufzend das Gesicht fächern. Snip fand ihn abstoßend alt. »Alle sagen, der Minister sei ein überaus charmanter Mann. Siehst du ihn manchmal? Oder unterhältst du dich mit ihm? Ich habe gehört, er unterhält sich mit Hakeniern wie mit ganz normalen Menschen. Alle loben ihn in den höchsten Tönen. Ich habe Anderier sagen hören, er werde eines Tages Herrscher werden.«
Snip lehnte sich gegen den Karren. »Ich habe ihn ein paarmal gesehen.« Er gab sich nicht die Blöße, ihr zu erzählen, daß Minister Chanboor ihn einmal geohrfeigt hatte, weil er ein stumpfes Buttermesser genau neben den Fuß des Ministers hatte fallen lassen. Er hatte den Klaps verdient. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie noch immer hoch zu den Fenstern. Snip starrte auf die Spuren im feuchten Staub. »Jeder mag und respektiert den Minister für Kultur. Es erfüllt mich mit Freude, für einen so noblen Mann arbeiten zu können, auch wenn ich unwürdig bin. Es ist ein Beweis für sein edelmütiges Herz, daß er Hakeniern Arbeit gibt, damit wir nicht verhungern müssen.«
Plötzlich sah Beata sich befangen um und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. Er unternahm einen weiteren Versuch, sie von seinen ehrenvollen Absichten zu überzeugen.
»Eines Tags hoffe ich ebenfalls Gutes tun zu können. Etwas zur Gemeinschaft beizutragen. Den Menschen zu helfen.« Beata nickte anerkennend. Er fühlte sich durch diese Anerkennung ermutigt. Snip hob das Kinn.
»Eines Tages hoffe ich, daß meine Schuld abgetragen ist und ich mir ein ›Sir‹ vor dem Namen verdient habe. Dann möchte ich nach Aydindril reisen, zur Burg der Zauberer, und die Zauberer bitten, mich zum Sucher zu ernennen und mir das Schwert der Wahrheit zu überreichen, damit ich zurückkehren, das Volk der Anderier beschützen und Gutes tun kann.«
Beata sah ihn erstaunt an. Dann lachte sie.
»Du weißt ja nicht einmal, wo Aydindril liegt, geschweige denn, wie weit es bis dahin ist.« Sie schüttelte, unterbrochen von Lachanfällen, den Kopf.
Dabei wußte er ganz genau, wo Aydindril lag. »Im Norden und Osten«, meinte er kleinlaut.
»Es heißt, das Schwert der Wahrheit sei ein Gegenstand der Magie. Magie ist schlecht, schmutzig und böse. Was weißt du schon von Magie?«
»Na ja … wahrscheinlich gar nichts…«
»Du hast nicht die geringste Ahnung von Magie. Oder von Schwertern. Wahrscheinlich würdest du dir selbst den Fuß abschneiden.« Sie beugte sich über den Karren, hob den Korb mit Tauben und ein weiteres Netz mit Junghühnern heraus und begab sich zur Küche.
Snip wäre am liebsten im Boden versunken. Er hatte ihr seinen geheimsten Traum anvertraut, und sie hatte ihn ausgelacht. Betrübt ließ er das Kinn auf die Brust sinken. Sie hatte recht. Er war Hakenier, er konnte niemals darauf hoffen, sich als würdig zu erweisen.
Gesenkten Blickes lud er den Karren weiter ab und sagte kein einziges Wort mehr. Er kam sich vor wie ein Narr, bei jedem Schritt machte er sich insgeheim Vorwürfe. Hätte er doch nur seine Träume für sich behalten. Am liebsten hätte er die Worte zurückgenommen.
Bevor sie den letzten Rest aus dem Karren zogen, faßte Beata ihn am Arm und räusperte sich, als hätte sie die Absicht, noch etwas hinzuzufügen. Wieder senkte Snip den Blick zu Boden, bereit, sich anzuhören, was sie sonst noch über seine Torheit anzumerken hatte.
»Tut mir leid, Snip. Meine gewissenlose hakenische Art hat mich irren und grausam sein lassen. Es war falsch von mir, derart grausame Dinge zu sagen.«
Er schüttelte den Kopf. »War schon richtig, daß du gelacht hast.«
»Hör zu, Snip … wir alle haben unerfüllbare Träume. Auch das ist Teil unserer verdorbenen Natur. Wir müssen lernen, besser zu sein als unsere niederen Träume.«
Er wischte sich das Haar aus der Stirn und blickte in ihre graugrünen Augen. »Du hast auch Träume, Beata? Richtige Träume? Wünschst du dir etwas?«
»Du meinst, so etwas wie dein törichter Wunsch, der Sucher der Wahrheit zu sein?« Er nickte. Schließlich wandte sie den Blick von seinen Augen ab. »Vermutlich ist es nur gerecht, damit du zur Abwechslung auch einmal mich auslachen kannst.«
»Ich werde ganz bestimmt nicht lachen«, meinte er leise, sie dagegen blickte hinauf zu den kleinen, weißen Wölkchen, die über den strahlend blauen Himmel zogen, und schien ihn nicht zu hören.
»Ich würde gerne lesen lernen.«
Sie warf ihm verstohlen einen Blick zu, um zu sehen, ob er lachte. Er tat es nicht.
»Davon habe ich auch schon geträumt.« Er sah sich um, ob jemand sie beobachtete. In der Nähe war niemand, also beugte er sich über die Rückwand des Karrens und zeichnete mit dem Finger Zeichen in den Staub.
Ihre Neugier war stärker als ihr Argwohn. »Ist das Schrift?«
»Es ist ein einzelnes Wort, ich habe es auswendig gelernt. Das einzige, das ich kenne, aber es ist ein Wort, und ich kann es lesen. Bei einem Fest hörte ich, wie ein Mann sagte, es stehe auf dem Schwert der Wahrheit.« Snip unterstrich das Wort im Staub. »Der Mann hat es oben in die Butter geritzt, um es einer Frau auf diesem Fest zu zeigen. Es ist das Wort ›Wahrheit‹.