Er hatte in der Küche zu tun gehabt und wider besseres Wissen angenommen, Beata sei längst wieder aufgebrochen. Es gab ja jede Menge Türen, die nach draußen führten.
Seit sie nach oben gegangen war, mußte eine volle Stunde verstrichen sein. Wahrscheinlich wollte Minister Chanboor ihr eine Nachricht für den Metzger mitgeben – mit irgendeiner Sonderbestellung für seine Gäste. Gewiß war er längst mit ihr fertig.
Wieso stand aber dann der Karren noch dort?
Snip bückte sich und zog ein Apfelholzscheit aus dem Stapel. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Wahrscheinlich erzählte Minister Chanboor ihr Geschichten. Snip nahm das nächste Scheit vom Holzstoß. Aus irgendeinem Grund hörten sich Frauen gerne die Geschichten des Ministers an, und er erzählte gerne. Immerzu unterhielt er sich mit Frauen und erzählte ihnen Geschichten. Manchmal, bei festlichen Abendessen und Feiern, scharten sie sich kichernd um ihn. Vielleicht wollten sie einfach nur höflich sein – schließlich war er ein wichtiger Mann.
Kein Mädchen verschwendete auch nur einen Gedanken darauf, zu ihm höflich zu sein, und seine Geschichten hörten sie sich auch nicht gerade gerne an. Snip nahm den Arm voll Apfelholz auf und begab sich Richtung Küche. Er selber fand die Geschichten, wie er sich betrank, ziemlich komisch, aber Mädchen interessierten sich nicht sonderlich dafür.
Wenigstens mochte Morley seine Geschichten. Morley, und auch die anderen, die ein Strohlager in dem Zimmer hatten, in dem Snip schlief. Sie erzählten sich alle gerne gegenseitig Geschichten und betranken sich dabei. In der wenigen Freizeit außerhalb der Arbeit und der Bußversammlungen gab es sonst nicht viel zu tun.
Immerhin aber hatten sie manchmal nach den Bußversammlungen, wenn ihre Arbeit erledigt war und sie nicht wieder zurückmußten, Gelegenheit, mit Mädchen zu sprechen. Für Snip jedoch – wie auch für die anderen – waren diese Bußversammlungen, auf denen sie all die entsetzlichen Dinge zu hören bekamen, ein bedrückendes Erlebnis. Manchmal, wenn es ihnen gelang, ein wenig Wein oder Bier zu stibitzen, betranken sie sich nach ihrer Rückkehr.
Snip hatte bereits ein Dutzend Armladungen ins Haus geschleppt, als Meister Drummond ihn am Ärmel festhielt und ihm ein Stück Papier in die Hand drückte.
Snip verbeugte sich, sagte »Ja, Sir« und zog los. Er konnte den Zettel nicht entziffern, aber da ein Fest anstand und er schon früher derartige Zettel überbracht hatte, nahm er an, bei den vollgeschriebenen Spalten handele es sich um Bestellungen, die die Küche geliefert bekommen wollte. Er war froh über den Botengang, denn er bedeutete keine echte Arbeit und bot ihm außerdem Gelegenheit, für eine Weile der Hitze und dem Lärm in der Küche zu entfliehen. Auch wenn er die Gerüche dort genoß und er gelegentlich einen kleinen Happen ergattern konnte – die verlockenden Speisen waren ausschließlich für die Gäste bestimmt, nicht fürs Personal. Manchmal aber wollte er einfach raus aus all dem Lärm und Durcheinander.
Der alte Braumeister, dessen dunkles anderisches Haar bis auf einen spärlichen, weiß gewordenen Rest größtenteils ausgefallen war, überflog den Zettel grunzend, den Snip ihm reichte. Anstatt Snip wieder loszuschicken, verlangte der Brauer, er solle ihm ein paar schwere Säcke mit Hopfen ins Haus schleppen. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches. Snip war nichts weiter als ein Küchenjunge, daher hatte ein jeder das Recht, ihm zu befehlen, Arbeiten für ihn zu erledigen. Er seufzte. Offenbar war dies der Preis für den gemütlichen Spaziergang, der hinter ihm lag, und für den, den er auf dem Rückweg noch vor sich hatte.
Als er durch die Dienstbotentüren, wo ein großer Teil der Güter für das Anwesen angeliefert wurde, nach draußen ging, bemerkte er, daß auf der anderen Straßenseite noch immer Brownie mit dem Metzgerkarren stand. Zu seiner Erleichterung sah er nur zehn Säcke seitlich neben der Laderampe aufgestapelt liegen, die zur Brauerei hinuntergeschleppt werden sollten. Als er mit den Säcken fertig war, ließ man ihn gehen.
Immer noch damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen, schlenderte er durch die Dienstbotenflure zurück zur Küche. Er begegnete kaum jemandem, und die wenigen waren bis auf einen alles hakenische Dienstboten, so daß er nur einmal stehenbleiben mußte, um sich zu verbeugen. Schwere Schritte hallten ihm entgegen, als er die Treppenflucht zum Hauptstockwerk und der Küche hinaufstieg. Kurz vor der Tür hielt er inne.
Er blickte den quadratischen Aufgang des Treppenschachtes hinauf bis in den dritten Stock. Die Flure waren menschenleer. Meister Drummond würde ihm glauben, wenn er ihm erklärte, der Brauer habe Säcke ins Haus geschleppt haben wollen. Immerhin war Meister Drummond mit den Vorbereitungen für das Fest am Abend beschäftigt und würde sich nicht die Mühe machen, nachzufragen, um wie viele Säcke es sich gehandelt hatte, und selbst wenn, würde er sich bestimmt nicht auch noch die Zeit nehmen, Snips Antwort nachzuprüfen.
Snip rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf, fast noch bevor ihm recht klar war, daß er beschlossen hatte, sich kurz umzusehen. Wonach und aus welchem Grund, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen.
Er war erst ein paarmal im zweiten Stock gewesen, und nur ein einziges Mal im dritten, erst letzte Woche, um Dalton Campbell, dem neuen Adjutanten des Ministers, eine Abendmahlzeit hinaufzubringen, die dieser unten in der Küche bestellt hatte. Ein anderischer Gehilfe hatte Snip aufgetragen, das Tablett mit Fleischscheiben auf dem Tisch im leeren Büro abzustellen. In den oberen Stockwerken des Westflügels, in dem sich auch die Küche befand, in der Snip arbeitete, waren eine Menge Beamtenbüros untergebracht.
Angeblich befanden sich die Büros des Ministers im dritten Stock. Den Geschichten zufolge, die Snip aufgeschnappt hatte, besaß der Minister eine ganze Flucht von Büros. Wieso er mehr als eines benötigte, vermochte Snip nicht zu erraten. Niemand hatte es ihm je erklärt.
Im ersten und zweiten Stock des Westflügels, hatte Snip erzählen hören, befand sich die reichhaltige anderische Bibliothek. Die Bibliothek war ein Hort der reichen und vorbildlichen Kultur des Landes und lockte Gelehrte und andere wichtige Persönlichkeiten auf das Anwesen. Die anderische Kultur bildete eine Quelle des Stolzes, um die alle sie beneideten, hatte man Snip beigebracht.
Der dritte Stock des Ostflügels beherbergte die Familiengemächer des Ministers. Seine Tochter, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als Snip und unscheinbar bis zur Häßlichkeit, wie Snip hatte erzählen hören, hatte irgendeine Akademie besucht. Er hatte sie nur von weitem gesehen, fand die Beschreibung jedoch zutreffend. Manchmal unterhielten sich ältere Dienstboten tuschelnd über einen anderischen Posten, der in Ketten gelegt worden war, weil die Tochter des Ministers, Marcy oder Marcie, je nachdem, wer die Geschichte gerade erzählte, ihn irgendeines Vergehens bezichtigt hatte. Snip hatte unterschiedliche Versionen gehört, angefangen damit, er habe nichts weiter getan, als ruhig im Flur Wache zu stehen, bis hin zu Spionieren und sogar Vergewaltigung.
Stimmen hallten den Treppenschacht herauf. Den Fuß bereits auf der nächsten Stufe, hielt Snip inne und lauschte, jeden Muskel angespannt und ohne sich zu rühren. Während er bewegungslos verharrte, stellte sich heraus, daß unten im ersten Stock jemand durch den Flur ging. Die Leute kamen nicht herauf.
Glücklicherweise betrat die Frau des Ministers, Lady Hildemara Chanboor, nur selten den Westflügel, in dem Snip arbeitete. Lady Chanboor war eine Anderierin, vor der sogar andere Anderier zitterten. Sie war von üblem Charakter und mit nichts und niemandem zufrieden. Sie hatte Leute aus dem Personal entlassen, weil sie beim Vorübergehen im Flur zu ihr aufgesehen hatten.
Leute, die es wissen mußten, hatten Snip erzählt, Lady Chanboor habe ein Gesicht, das zu ihrem Charakter paßte: es war häßlich. Die unglücklichen Bediensteten, die Lady Chanboor beim Vorübergehen im Flur angesehen hatten, seien Bettler geworden, hieß es.