Die beiden Frauen unten gingen, ins Gespräch vertieft, weiter. Er hielt den Atem an, hörte eine Tür knarren. Eine der Frauen erwähnte den Ehemann der anderen – Dalton.
Die Tür schloß sich hinter ihnen. Snip atmete auf.
Unmittelbar vor ihm wurde die Tür aufgerissen.
Der große Fremde hielt Beata am Oberarm gepackt. Sie kehrte Snip den Rücken zu, als sie aus dem Zimmer geworfen wurde. Der Mann versetzte ihr einen Stoß, als wiege sie nicht mehr als ein Federkissen. Sie landete mit einem dumpfen Schlag auf ihrem Hinterteil, nicht ahnend, daß Snip unmittelbar hinter ihr stand.
Der Fremde blickte in seine weitaufgerissenen Augen, als ginge ihn das alles nichts an. Der dichte Haarschopf des Mannes hing ihm in verfilzten Strähnen bis auf die Schultern herab. Seine Kleidung war dunkel und mit ledernen Flicken, Riemen und Gürteln übersät. Der größte Teil seiner Waffen lag im Zimmer auf dem Fußboden. Allerdings wirkte er wie ein Mann, der sie nicht nötig hatte, wie ein Mann, der imstande wäre, nahezu jedem mit seinen schwieligen Händen den Hals umzudrehen.
Als er sich wieder zum Zimmer umdrehte, mußte Snip zu seinem Entsetzen erkennen, daß der eigenartige Übermantel aus Skalps gemacht war. Deshalb sah er so aus, als wäre er mit Haarbüscheln übersät, denn er war mit Haarbüscheln übersät, mit menschlichen Haarbüscheln. In jeder Haarfarbe, von blond bis schwarz.
Der Minister rief den Mann von jenseits des Türrahmens bei seinem Namen – »Stein« – und warf ihm ein handgroßes weißes Stoffknäuel zu. Stein fing es auf und zog daraufhin Beatas Unterhosen mit zwei fleischigen Fingern auseinander, um sie zu begutachten. Er warf sie ihr in den Schoß, während sie nach Atem ringend auf dem Boden hockte und sich größte Mühe gab, nicht in Tränen auszubrechen.
Stein blickte Snip vollkommen ungerührt in die Augen und feixte. Sein Feixen schob den dichten Stoppelbart faltig zur Seite.
Er zwinkerte Snip neckisch zu. Die Gleichgültigkeit des Mannes gegenüber der Tatsache, daß noch eine weitere Person anwesend war, die Zeuge des Geschehens wurde, versetzte Snip in Erstaunen. Der Minister spähte, sich die Hosen zuknöpfend, zur Tür heraus. Auch er feixte und zog beim Hinaustreten auf den Flur die Tür hinter sich zu.
»Sollen wir jetzt der Bibliothek einen Besuch abstatten?«
Stein machte eine einladende Geste.
Beata saß mit hängendem Kopf da, während die beiden Männer sich ungezwungen miteinander plaudernd durch den Flur nach links entfernten. Das qualvolle Erlebnis schien sie am Boden zerstört und zu sehr ernüchtert zu haben, um noch den Willen aufzubringen, sich zu erheben, zu gehen und in ihr früheres Leben zurückzukehren.
Stocksteif, mit aufgerissenen Augen, den Atem anhaltend, wartete Snip ab und hoffte auf das Unmögliche – daß sie sich vielleicht nicht umdrehen würde, daß sie vielleicht verwirrt durch den anderen Flur von dannen ziehen und ihn hinter sich nicht bemerken würde.
Ihr Schluchzen nur mühsam unterdrückend, kam Beata wankend auf die Beine. Als sie sich umdrehte und Snip bemerkte, erstarrte sie vor Schreck. Er stand ebenfalls da wie gelähmt und wünschte sich mehr als alles andere, nie die Treppe heraufgestiegen zu sein, um sich umzusehen. Er hatte längst weit mehr gesehen, als ihm lieb war.
»Beata…« Er wollte sie fragen, ob sie verletzt sei. Natürlich war sie das! Er wollte sie trösten, wußte aber nicht, wie, fand nicht die richtigen Worte. Er wollte sie schützend in die Arme nehmen, fürchtete jedoch, sie könnte seine fürsorgliche Geste falsch auslegen.
Beatas Gesicht wandelte sich von Elend zu blindem Zorn. Unerwartet schoß ihre Hand vor und schlug ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, daß sein Kopf wie eine Glocke klang.
Der heftige Schlag riß seinen Kopf zur Seite, die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Er glaubte, hinten in einem Flur jemanden zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Als er versuchte, seine Orientierung wiederzuerlangen, und zurücktaumelnd nach einem Geländer tastete, berührte seine Hand statt dessen den Fußboden. Ein Knie landete neben der Hand auf dem Boden. Verschwommen nahm er Beatas blaues Kleid wahr, als sie die Stufen hinunterrannte, während das abgehackte Trippeln ihrer Schritte ein hämmerndes Echo den Treppenschacht heraufsandte.
Ein lähmender Schmerz fuhr spitz und heiß unmittelbar vor seinem klingenden Ohr in seinen Oberkiefer, auch seine Augen schmerzten. Die Härte ihres Schlages verblüffte ihn. In seiner Magengrube machte sich Übelkeit breit, er kniff die Augen zusammen und versuchte gewaltsam wieder einen klaren Blick zu bekommen.
Er erschrak, als eine Hand ihn unter dem Arm faßte; sie half ihm wieder auf die Beine. Dicht über seinem erschien Dalton Campbells Gesicht.
Im Gegensatz zu den beiden anderen Männern lächelte er nicht, sondern betrachtete Snips Augen, wie Meister Drummond einen vom Fischhändler gelieferten Heilbutt musterte. Kurz bevor er ihn ausnahm.
»Wie heißt du?«
»Snip, Sir. Ich arbeite unten in der Küche.« Der Schlag und seine Angst bewirkten, daß ihm seine Beine wie gekochte Nudeln vorkamen.
Der Mann sah zur Treppe. »Du scheinst dich aus der Küche verlaufen zu haben, meinst du nicht auch?«
»Ich hab dem Braumeister einen Zettel gebracht.« Snip hielt inne, um Luft hinunterzuwürgen und seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Ich war gerade auf dem Weg zurück in die Küche, Sir.«
Die Hand schloß sich fester um Snips Arm und zog ihn heran. »Du mußt hart arbeiten, Junge, wenn du zum Braumeister unten im Untergeschoß und dann gleich wieder hinauf zur Küche im ersten Stock gerannt bist. Ich hätte nicht den geringsten Grund, mich daran zu erinnern, dich hier im dritten Stock gesehen zu haben.« Er ließ Snips Arm los. »Vermutlich habe ich dich unten gesehen, wie du von der Brauerei in die Küche zurückgerannt bist. Ohne dich unterwegs zu verirren.«
Snips Sorge um Beata ging in die wachsende Hoffnung über, einen Rauswurf – oder Schlimmeres – zu verhindern.
»Ja, Sir. Ich war auf dem kürzesten Weg zurück in die Küche.«
Dalton Campbell drapierte die Hand über das Heft seines Schwertes. »Du warst bei der Arbeit und hast nichts gesehen, richtig?«
Snip unterdrückte sein Entsetzen. »Nein, Sir. Nicht das geringste. Ich schwöre es. Nur, daß Minister Chanboor mir zugelächelt hat. Er ist ein großer Mann, der Minister. Ich bin dankbar, daß ein so großer Mann wie er einem nutzlosen Hakenier wie mir Arbeit gibt.«
Dalton Campbells Mundwinkel zuckten gerade so weit nach oben, daß Snip glaubte, der Adjutant sei über das Gehörte erfreut. Er trommelte mit den Fingern auf den messingnen Handschutz seines Schwertes. Snip starrte auf die fürstliche Waffe und fühlte sich genötigt, das Schweigen zu brechen.
»Ich will ein nützliches und angesehenes Mitglied bei Hofe sein. Ich will hart arbeiten und mir Kost und Logis verdienen.«
Das Lächeln wurde breiter. »Das ist fürwahr gut zu wissen. Du scheinst ein tüchtiger junger Mann zu sein. Offenbar ist es dir mit deinem Wunsch ernst. Möglicherweise kann ich auf dich zählen, was meinst du?«
Snip war nicht sicher, weswegen genau man auf ihn zählen sollte, er antwortete trotzdem mit einem »Ja, Sir«, und zwar ohne Zögern.
»Du schwörst, du hast auf deinem Weg zurück in die Küche nichts gesehen. Das beweist mir, daß du ein Bursche bist, aus dem noch etwas werden kann. Vielleicht einer, dem man mehr Verantwortung übertragen könnte?«
»Verantwortung, Sir?«
In Dalton Campbells Augen blitzte eine beängstigende, nicht greifbare Intelligenz auf, derselben Art, bildete Snip sich ein, wie Mäuse sie in den Augen der Hauskatze sehen mochten.
»Manchmal brauchen wir Menschen, deren Wunsch es ist, bei Hofe aufzusteigen. Wir werden sehen. Achte aufmerksam auf die Lügen der Menschen, die den Minister in Verruf bringen wollen, dann sehen wir weiter.«