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Ein ängstliches Beben ging durch ihren Körper. »Wo ist dein Vater?«

Bethany zeigte zur Tür. »Er ist zum Klo, glaube ich. Mama, was ist geschehen?«

»Mama?« wimmerte Bruce.

»Still jetzt. Wird schon nichts sein. Legt euch wieder hin, alle beide.«

Die beiden Kinder sahen sie aus großen Augen an. Sie konnte sich ihre Unruhe nicht recht erklären. Die Kinder sahen sie ihr im Gesicht an, das wußte sie, trotzdem konnte sie sie nicht verbergen, so sehr sie sich auch bemühte.

Sie wußte nicht, was nicht in Ordnung war, woher die Besorgnis rührte, trotzdem spürte sie ganz deutlich, wie sie eine Gänsehaut bekam.

Das Böse.

Das Böse hing in der Luft wie der Rauch eines Holzfeuers, ließ sie die Nase rümpfen und raubte ihr den Atem. Das Böse. Irgendwo dort draußen in der Nacht lauerte das Böse.

Wieder fiel ihr Blick auf das leere Bett neben ihr. Er war zum Klo gegangen. Julian war im Toilettenhäuschen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Nora fiel ein, wie er gleich nach dem Essen zum Abort gegangen war, vor dem Schlafengehen. Was nicht bedeutete, daß er nicht noch einmal gegangen sein konnte. Dabei hatte er gar nichts von Schwierigkeiten erwähnt.

Die Bestürzung zerriß sie innerlich, wie die Furcht vor dem Hüter höchstpersönlich.

»Gütiger Schöpfer, beschütze uns«, flehte sie leise. »Beschütze uns und dieses Haus mit seinen bescheidenen Bewohnern. Jag das Böse fort. Bitte, Gütige Seelen, wacht über uns und verwahrt uns sicher.«

Nach dem Gebet öffnete sie die Augen. Die Kinder starrten sie noch immer an. Bethany spürte es wohl ebenfalls. Sie gab sich nie zufrieden, ohne nach dem Warum zu fragen. Nora nannte sie aus Spaß das ›WarumKind‹. Bruce saß einfach da und zitterte.

Nora warf die Wolldecke zur Seite. Die Hühner in der Ecke bekamen es mit der Angst, flatterten erschrocken auf und gaben ein überraschtes Gackern von sich.

»Legt euch doch schlafen, Kinder.«

Sie legten sich wieder hin, sahen ihr aber zu, wie sie, sich hin und her windend, ein Unterhemd über das Nachthemd streifte. Zitternd, ohne zu wissen warum, kniete sie auf den Ziegelsteinen vor der Feuerstelle nieder und stapelte Birkenscheite auf die Glut. Im Grunde war es überhaupt nicht kalt – sie hatte mit dem Gedanken gespielt, die Glut über Nacht ausgehen zu lassen –, aber plötzlich verspürte sie das Bedürfnis nach einem behaglichen Feuer, nach dem Gefühl von Sicherheit, das seine Helligkeit vermittelte. Sie holte ihre einzige Öllampe neben der Feuerstelle hervor. Mit einem Stück eingerollter Birkenrinde entzündete sie rasch den Lampendocht und stülpte den Zylinder wieder darüber. Die Kinder beobachteten sie noch immer.

Nora bückte sich und gab dem kleinen Bruce einen Kuß auf die Wange. Sie strich Bethanys Haar zurück und küßte ihre Tochter auf die Stirn. Sie schmeckte nach dem Staub, in dem sie den ganzen Tag zugebracht hatte, als sie dabei geholfen hatte, die Steine vom Feld zu schleppen, bevor es gepflügt und bepflanzt wurde. Sie konnte zwar nur kleine Steine tragen, trotzdem war es eine Hilfe.

»Schlaft weiter, meine Kleinen«, versuchte sie sie zu beruhigen. »Pa ist kurz zum Klo gegangen. Ich bringe ihm nur rasch eine Lampe, damit er den Weg zurück findet. Ihr wißt doch, wie euer Pa sich des Nachts die Zehen stößt und uns dann dafür verwünscht. Geht wieder schlafen, alle beide. Es ist alles in Ordnung. Ich bringe eurem Pa nur eine Lampe.«

Nora schob ihre Füße in die kalten, nassen, schlammverkrusteten Stiefel, die sie neben der Tür abgestellt hatte. Sie wollte sich nicht die Zehen stoßen und dann am nächsten Tag mit einem lahmen Fuß arbeiten müssen. Nervös hantierte sie mit einem Tuch herum, legte es sich um die Schultern und zupfte es übertrieben ordentlich zurecht, bevor sie es verknotete. Sie hatte Angst, die Tür aufzumachen, und war den Tränen nahe, so sehr sträubte sie sich, diese Tür in die Nacht hinein zu öffnen.

Dort draußen lauerte das Böse. Sie wußte es, konnte es spüren.

»Dafür sollst du in der Hölle schmoren, Julian«, murmelte sie im Flüsterton. »Dafür sollst du in der Hölle schmoren, bis du knusprig bist, weil du mich zwingst, in dieser Nacht das Haus zu verlassen.«

Sie überlegte, ob er sie, wenn sie ihn im Toilettenhäuschen sitzend vorfand, wegen ihrer törichten, weibischen Angewohnheiten verwünschen würde. Manchmal tat er das und behauptete, sie mache sich sinnlos Sorgen wegen nichts. Behauptete, bei ihrer Sorgenmacherei käme ohnehin nichts herum, wieso tue sie es dann? Bestimmt nicht, um sich sein Gefluche anzuhören, soviel stand jedenfalls fest.

Als sie den Riegel hochhob, redete sie sich ein, wie sehr sie wünschte, er möge heute nacht draußen im Toilettenhäuschen sitzen und sie verwünschen, anschließend den Arm um ihre Schultern legen und ihr sagen, sie solle zu weinen aufhören und wieder zu ihm ins Bett kommen. Sie brachte die Hühner zum Schweigen, die protestierten, als sie die Tür aufmachte.

Es schien kein Mond. Der wolkenverhangene Himmel war so schwarz wie der Schatten des Hüters. Schlurfend eilte sie über den festgetretenen Gartenweg zum Toilettenhäuschen. Mit zitternder Hand klopfte sie an die Tür.

»Julian? Julian, bist du da drinnen? Bitte, Julian, sag doch etwas, Ich flehe dich an, spiel mir keinen Streich, nicht heute nacht.«

Die Stille pochte ihr in den Ohren. Es gab keine Insekten, die Geräusche von sich gaben. Keine Grillen. Weder Frösche noch Vögel. Es herrschte einfach eine Totenstille, als bestünde die ganze Welt nur aus dem winzigen Stück Erde im Rund des Lampenscheins, der sie umgab und hinter dem nichts folgte, ganz so, als könnte sie die Lampe stehen lassen, hinaus in die Dunkelheit treten und durch die dahinterliegende Finsternis in die Tiefe stürzen, bis sie eine alte Frau wäre, und dann noch ein wenig länger. Sie wußte, der Gedanke war töricht, in diesem Augenblick jedoch erschien ihr die Vorstellung sehr real und jagte ihr einen heftigen Schrecken ein.

Die Tür des Aborts knarrte, als sie sie aufzog. Sie machte sich keine Hoffnungen, denn sie wußte, Julian war nicht dort.

Und sie behielt Recht.

Mit diesen Gefühlen lag sie des öfteren richtig. Julian behauptete, es sei dumm von ihr zu glauben, sie besitze irgendwelche geistigen Kräfte, die ihr Dinge verrieten, so wie die alte Frau, die oben in den Bergen hauste, aus denen sie herunterstieg, sobald eine Ahnung sie überkam und sie glaubte, den Menschen davon erzählen zu müssen.

Manchmal aber wußte Nora Dinge. Sie hatte gewußt, daß Julian nicht im Toilettenhäuschen sitzen würde.

Schlimmer noch, sie wußte, wo er sich befand, und dieses Wissen machte ihr eine Heidenangst. Sie hatte nur deshalb im Abort nachgesehen, weil sie gehofft hatte, sie irre sich.

Jetzt aber mußte sie an einen anderen Ort nachsehen gehen.

Nora hielt die Lampe nach vorn und versuchte, den Pfad hinunterzublicken; weit konnte sie nicht sehen. Den Pfad entlang stapfend, drehte sie sich um und blickte zum Haus zurück. Sie konnte das Fenster erkennen, denn das Feuer brannte gut. Die Birkenscheite hatten Feuer gefangen, und die Flammen gaben reichlich Licht.

Es war, als grinste ihr aus der tiefschwarzen Nacht zwischen ihr und dem Haus ein Gefühl entsetzlicher Niedertracht entgegen. Das Tuch fest um ihren Körper gerafft, leuchtete Nora abermals vor sich über den Pfad. Die Vorstellung, die Kinder zurückzulassen, behagte ihr überhaupt nicht. Nicht, wenn dieses Gefühl sie überkam.

Doch irgend etwas zog sie weiter, den Pfad hinunter.

»Bitte, Gütige Seelen, gebt, daß ich eine törichte Frau mit törichten Ansichten bin. Bitte, Gütige Seelen, gebt, daß Julian in Sicherheit ist. Wir alle brauchen ihn. Gütige Seelen, wir brauchen ihn.«

Schluchzend lief sie hügelabwärts, schluchzend, weil sie sich so sehr davor fürchtete, die Wahrheit zu erfahren. Ihre Hand mit der Lampe zitterte, und die Flamme flackerte nervös.