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Endlich vernahm sie das Geräusch des Baches und atmete erleichtert auf, denn jetzt war die Nacht nicht mehr ganz so totenstill und beängstigend leer wie gerade eben noch. Jetzt, da sie das Wasser hörte, ging es ihr sofort besser, denn plötzlich war dort draußen etwas, etwas Vertrautes. Sie begann, sich albern vorzukommen, weil sie geglaubt hatte, jenseits des Scheins der Lampe sei die Welt zu Ende, ganz so, als stünde sie am Rand der Unterwelt. Genauso konnte auch alles andere ein Irrtum sein. Bestimmt würde Julian, wie es seine Art war, die Augen verdrehen, wenn sie ihm erzählte, sie habe sich gefürchtet, weil ihr die Welt jenseits des Lichts so leer erschienen war.

Um ihr Unbehagen zu vertreiben, versuchte sie wie ihr Julian zu pfeifen, doch ihre Lippen waren so trocken wie altbackener Toast. Sie hätte gerne gepfiffen, damit Julian sie hörte, brachte aber keinen vernünftigen Ton heraus. Auch hätte sie einfach nach ihm rufen können, doch davor hatte sie Angst. Sie hatte Angst, keine Antwort zu erhalten. Lieber wäre ihr, einfach auf ihn zu stoßen und sich für ihre alberne, grundlose Heulerei ausschimpfen zu lassen.

Eine leichte Brise ließ das Wasser plätschernd gegen das Seeufer schlagen, daher hörte sie es, noch bevor sie es sah. Sie hoffte, Julian dort auf seinem Baumstumpf sitzen zu sehen, wo er, eine Angelschnur in der Hand, darauf wartete, daß ein Karpfen für sie anbiß. Sie hoffte zu sehen, wie er den Kopf hob und sie verwünschte, weil sie ihm die Fische verscheuchte.

Auf dem Stumpf saß niemand. Die Schnur hing schlaff herab.

Am ganzen Arm zitternd, hielt Nora die Lampe in die Höhe, um das zu sehen, weshalb sie hergekommen war. Tränen brannten ihr in den Augen, sie mußte blinzeln, um etwas erkennen zu können. Sie bekam nur schniefend Luft.

Die Lampe höher haltend, stakste sie hinaus ins Wasser, bis es ihr in die Stiefel lief. Dann machte sie noch einen Schritt, bis das Wasser schließlich den Saum von Nachthemd und Unterkleid durchtränkte und deren volles Gewicht mit jedem Schritt und jeder Wellenbewegung hin und her gezogen wurde.

Als ihr das Wasser bis an die Knie reichte, sah sie ihn.

Er trieb mit dem Gesicht im Wasser, die Arme schlaff an den Seiten, die Beine leicht gespreizt. Die kleinen, von der Brise erzeugten Wellen schwappten über seinen Hinterkopf und schwenkten seine Haare wie Wasserpflanzen aus dem See. Sachte bewegte er sich dort im Wasser hin und her, wie ein toter, an der Oberfläche treibender Fisch.

Nora hatte befürchtet, ihn so vorzufinden. Es war genau, wie sie befürchtet hatte, daher war sie nicht einmal schockiert. Bis zu den Knien im Wasser stehend, sah sie Julian zwanzig Fuß weit draußen wie einen toten, aufgedunsenen Fisch auf dem See treiben. Das Wasser war zu tief, um bis zu ihm hin zu waten. An der Stelle, wo er trieb, würde es ihr bis über den Kopf reichen.

Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Normalerweise half ihr Julian, wenn sie nicht weiter wußte. Wie sollte sie ihren Mann jetzt ans Ufer bekommen?

Wie sollte sie weiterleben? Wie sollte sie sich und ihre Kinder ohne Julian ernähren? Julian machte alle schweren Arbeiten. Er wußte Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Er sorgte für sie.

Sie fühlte sich taub und wie gelähmt, wie kurz nach dem Erwachen. Alles erschien ihr unwirklich.

Julian durfte nicht tot sein. Er war doch Julian. Er konnte nicht sterben. Nicht Julian.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ein dumpfer Schlag in der Luft. Ein Heulen, wie Wind in einer Schneesturmnacht. Ein Klagen und Rauschen erhob sich in der nächtlichen Luft.

Nora sah, wie oben auf dem Hügel Funken aus dem Kamin ihres Hauses schlugen. Funken stoben in ungestümen Wirbeln in die Höhe und schraubten sich in die Dunkelheit. Nora, wie vom Donner gerührt, erstarrte vor Entsetzen.

Ein Schrei zerriß die stille Nacht. Das grauenerregende Geräusch erhob sich wie die Funken in die Nachtluft, ein gräßlich hallendes Kreischen, wie sie es noch nie gehört hatte. So brutal war der Schrei, daß sie ihn nicht für menschlich hielt.

Aber er war es, das wußte sie. Sie wußte, es war Bruce, der dort schrie.

Wie von Sinnen vor Entsetzen, ließ sie die Lampe mit einem Aufschrei unvermittelt ins Wasser fallen und rannte Richtung Haus. Ihre Schreie waren die Antwort auf seine, sie nährten sich von seinen und zerrissen gemeinsam mit ihnen die Stille.

Ihre kleinen Kinder befanden sich im Haus.

Das Böse war im Haus.

Und sie hatte sie ihm ausgeliefert.

In unbändiger Furcht angesichts ihres Versäumnisses beklagte sie wimmernd, daß sie ihre Kinder allein gelassen hatte. Kreischend flehte sie die Guten Seelen an, ihr beizustehen. Sie schrie nach ihren Kindern. Das panikartige Schluchzen blieb ihr im Halse stecken, als sie im Dunkeln durch das Gestrüpp stolperte.

Heidelbeersträucher verfingen sich in ihren Kleidern und rissen sie in Fetzen. Zweige peitschten gegen ihre Arme, während sie in ungestümer Hemmungslosigkeit drauflos rannte. Sie trat in ein Loch im Boden und verdrehte sich den Fuß, blieb aber auf den Beinen und rannte weiter Richtung Haus, zu ihren kleinen Kindern.

Bruce’ durchdringender Schrei zog sich endlos in die Länge, so daß sich ihr die Nackenhaare sträubten. Bethany konnte sie nicht hören, nur Bruce, den kleinen Bruce, der sich die Seele aus dem Leib schrie, als bekäme er die Augen ausgestochen.

Nora strauchelte, schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Sie rappelte sich auf, aus ihrer Nase schoß Blut, ein lähmender Schmerz ließ sie torkeln. Als sie keuchend Luft zu holen versuchte, würgte sie Blut und Dreck hervor, sie weinte, schrie, betete, japste und würgte, alles zur gleichen Zeit. Mit einer verzweifelten Anstrengung rannte Nora weiter Richtung Haus, den Schreien entgegen.

Laut polternd brach sie durch die Tür. Hühner umflatterten sie. Bruce klebte mit dem Rücken an der Wand neben der Tür. Wildes Entsetzen hatte von ihm Besitz ergriffen, er schien den Verstand verloren zu haben und schrie, als hätte ihn der Hüter bei den Zehen.

Bruce sah sie und wollte die Arme um sie schlingen, als er jedoch ihr blutverschmiertes Gesicht erblickte und das Blut, das ihr in Fäden vom Kinn herabtroff, warf er sich wieder mit dem Rücken gegen die Wand.

Sie packte ihn bei den Schultern. »Ich bin’s, Mama! Ich bin bloß hingefallen und hab mir die Nase aufgeschlagen, weiter nichts!«

Er warf sich auf sie, schlang ihr die Arme um die Hüften, krallte sich mit den Fingern in ihre Kleider. Nora drehte sich um, vermochte aber selbst im grellen Schein des Feuers ihre Tochter nicht zu sehen.

»Bruce! Wo ist Bethany?«

Er hob den Arm, der so sehr zitterte, daß sie befürchtete, er könnte abfallen. Sie wirbelte herum, um zu sehen, wohin er zeigte.

Nora entfuhr ein spitzer Schrei. Sie riß die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen, doch das war unmöglich, so heftig zitterten ihre Hände vor dem Mund, während ihre und Bruce’ Schreie sich vermischten.

Bethany stand, umhüllt von Flammen, mitten in der Feuerstelle.

Das Feuer umloderte sie in kreisenden, sich überschlagenden Wirbeln und verzehrte ihren schmächtigen Körper. Sie reckte die Arme in die wütende, weiße Hitze, so wie man der Sonne nach einem Bad an einem warmen Frühlingsnachmittag die Arme entgegenstreckt.

Der Gestank des blasenübersäten, schmorenden Fleisches kroch Nora in die blutende Nase und raubte ihr den Atem, bis sie an dem Gestank und Geschmack zu ersticken drohte und keine Luft mehr bekam. Sie konnte den Blick nicht von Bethany lösen, von ihrer Tochter, die bei lebendigem Leib verbrannte. Der Anblick erschien ihr unwirklich, ihr Verstand sperrte sich dagegen.

Nora stürzte einen Schritt in Richtung Flammen, um ihre Tochter dem Feuer zu entreißen. Eine innere Stimme, ein letzter Rest Verstand, sagte ihr jedoch, daß es viel zu spät war. Drängte sie, sich mit Bruce aus dem Staub zu machen, bevor es sie ebenfalls erwischte.

Bethanys Fingerspitzen waren völlig weggebrannt. Ihr Gesicht war nichts als wirbelnde, gelborangefarbene Flammen. Das Feuer brannte mit ungestüm entflammter, wildentschlossener Wut. Die Hitze sog Nora den Atem aus den Lungen.