Der Magen schien sich ihm zusammenzuschnüren; er mußte sich den Schweiß aus den Augen wischen, um sehen zu können. Er versuchte ruhig zu atmen, sein Herz schien allerdings einen eigenen Willen zu haben, doch ihm blieb keine andere Wahl. Aber bei den Gütigen Seelen, er war mehr als verängstigt.
»Direktor Linscott?« rief sie leise in Morleys Richtung.
Snip packte sie an den Ellenbogen und bog ihr die Arme auf den Rücken. Sie erschrak. Er war überrascht, wie wenig Mühe es ihm bereitete, ihre Arme auf dem Rücken festzuhalten, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen sträubte. Sie war durcheinander und verdutzt. Als Morley sah, daß Snip sie in seiner Gewalt hatte, sprang er aus den Schatten hervor.
Bevor sie groß schreien konnte, verpaßte ihr Morley einen Schlag in die Magengrube. Der mächtige Hieb hätte sowohl sie als auch Snip beinahe von den Beinen gerissen.
Claudine Winthrop krümmte sich und spie Erbrochenes über die gesamte Laderampe. Snip ließ ihre Arme los, sie verschränkte sie vor dem Unterleib und fiel, sich heftig übergebend, auf die Knie. Sowohl er als auch Morley wichen zurück, als es über Rampe und Kleid spritzte, waren aber nicht gewillt, sich mehr als eine Armeslänge von ihr zu entfernen.
Nach einigen längeren Krämpfen richtete sie sich wieder auf. Sie schien fertig zu sein und versuchte, keuchend nach Atem ringend, wieder auf die Beine zu kommen. Morley half ihr hoch und wirbelte sie herum. Er packte zu und bog ihr die Arme auf den Rücken.
Snip wußte, das war seine Chance, sich zu beweisen. Dies war seine Chance, den Minister zu beschützen. Dies war die Gelegenheit, Dalton Campbell stolz auf ihn zu machen.
Snip boxte sie in den Magen, so fest er sich traute.
Außer seinen Freunden hatte er noch nie jemanden geboxt, und das war nur zum Spaß gewesen. Noch nie so wie hier, nicht ernsthaft, nicht, um absichtlich jemanden zu verletzen. Ihre Taille war schmal und nachgiebig.
Ihm wurde übel. Ihm war, als müßte er sich ebenfalls übergeben. Genau so hatten sich seine hakenischen Vorfahren aufgeführt. Genau aus diesem Grund waren sie so schrecklich. So wie er.
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen versuchte sie ein ums andere Mal, Luft zu holen, was ihr aber nicht zu gelingen schien. Verzweifelt rang sie nach Atem, während sie ihn mit den Augen fixierte wie ein Schwein seinen Schlächter. Genau wie ihre anderischen Vorfahren die seinen angestarrt hatten.
»Wir sollen dir etwas ausrichten«, meinte Snip.
Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Snip das Reden übernahm. Morley konnte sich nicht so gut merken, was sie Claudine Winthrop ausrichten sollten. Snip hatte schon immer das bessere Gedächtnis gehabt.
Schließlich gelang es ihr, wieder zu Atem zu kommen. Snip ging mit gebeugtem Oberkörper auf sie los und landete drei Treffer. Schnell. Hart. Wutentbrannt.
»Hörst du mir auch gut zu?« knurrte er.
»Du kleiner hakenischer Bastard…«
Snip schlug mit voller Wucht zu. Der mächtige Schlag tat ihm an der Faust weh, selbst Morley wankte einen Schritt nach hinten. Sie hing vornübergebeugt in Morleys Griff und erbrach sich, trocken würgend. Snip hatte sie ins Gesicht schlagen, ihr die Zähne einschlagen wollen, Dalton Campbell hatte ihnen jedoch unmißverständlich zu verstehen gegeben, sie nur dort zu schlagen, wo man nichts davon sehen konnte.
»An deiner Stelle würde ich ihn nicht nochmal so nennen.« Morley packte eine Hand voll ihrer Haare und riß brutal hoch. Das gewaltsame Hochbiegen bewirkte, daß ihre Brüste aus dem Ausschnitt sprangen. Snip erstarrte. Er spielte kurz mit dem Gedanken, die Vorderseite ihres Kleides wieder hochzuziehen. Morley beugte sich über ihre Schulter, um selbst einen Blick darauf zu werfen. Er sah Snip feixend an.
Sie blickte an sich herunter und gewahrte das Malheur. Daraufhin legte sie resigniert den Kopf in den Nacken und schloß die Augen.
»Bitte«, sagte sie, nach Atem ringend, »tut mir nicht mehr weh, ja?«
»Bist du bereit, uns zuzuhören?«
Sie nickte. »Ja, Sir.«
Das überraschte Snip noch mehr als der Anblick ihrer nackten Brüste. Sein Lebtag hatte ihn noch nie jemand mit ›Sir‹ angeredet. Die beiden bescheidenen Worte klangen so fremd in seinen Ohren, daß er einfach dastand und sie anstarrte. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie sich über ihn lustig machen wollte. Ihr Gesichtsausdruck, als sie ihm schließlich in die Augen sah, verriet ihm, daß dem nicht so war.
Die Musik erfüllte ihn mit gänzlich ungekannten Gefühlen. Noch nie war er wichtig gewesen, noch nie hatte ihn jemand ›Sir‹ genannt. Noch am Morgen hatte man ihn ›Schnapp‹ gerufen. Und jetzt redete eine Anderierin ihn mit ›Sir‹ an. Und alles wegen Dalton Campbell.
Snip versetzte ihr einen weiteren Hieb in die Magengrube. Einfach so, weil ihm danach war.
»Bitte, Sir!« greinte sie. »So hört doch auf, bitte! Sagt mir, was Ihr wollt. Ich werde es tun. Wenn Ihr mich wollt, werde ich mich bereitwillig fügen – nur tut mir bitte nicht mehr weh. Bitte, Sir.«
Obwohl sein Tun ihn nach wie vor mit einem Übelkeit erregenden Gefühl des Ekels erfüllte, das ihm schwer im Magen lag, kam Snip sich wichtiger vor als je zuvor. Sie, eine Anderierin, stand mit entblößten Brüsten vor ihm und nannte ihn ›Sir‹.
»Jetzt hör zu, du dreckiges kleines Miststück.«
»Ja, Sir«, wimmerte sie. »Ich verspreche es. Ich werde zuhören. Was immer Ihr sagt.«
Sie wirkte so erbärmlich, so hilflos. Wenn vor nicht mal einer Stunde eine Anderierin, vielleicht sogar diese Claudine Winthrop, von ihm verlangt hätte, auf die Knie zu fallen und den Fußboden mit seiner Zunge sauber zuschlecken, er wäre der Aufforderung zitternd nachgekommen. Nie hätte er sich träumen lassen, wie einfach es sein würde. Ein paar Schläge, und sie flehte darum, tun zu dürfen, was er verlangte. Nie hätte er gedacht, wie einfach es sein würde, bedeutend zu sein und die Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.
Snip fiel ein, was Dalton Campbell ihm zu sagen aufgetragen hatte.
»Du bist vor dem Minister herumstolziert, stimmt’s? Du hast ihm Andeutungen gemacht, hab ich recht?«
Er ließ keinen Zweifel daran, daß es im Grunde keine Frage war. »Ja, Sir.«
»Solltest du jemals wieder auf die Idee kommen, herumzuerzählen, der Minister hätte dich vergewaltigt, wird dir das leid tun. So etwas zu behaupten ist Verrat. Kapiert? Verrat. Darauf steht der Tod. Man wird dich nicht mal wiedererkennen, wenn man deine Leiche findet. Hast du das kapiert, Miststück? Man wird deine Zunge an einen Baum genagelt finden. Es ist eine Lüge, daß der Minister dich vergewaltigt hat. Eine dreckige, verräterische Lüge. Sag so was nochmal, und man wird dafür sorgen, daß du eines qualvollen Todes stirbst.«
»Ja, Sir«, schluchzte sie. »Ich werde nie wieder lügen. Ich möchte mich entschuldigen. Bitte, werdet Ihr mir verzeihen? Ich werde niemals wieder lügen, das verspreche ich.«
»Du hast dich vor dem Minister produziert und ihm eindeutige Angebote gemacht. Aber es ist unter der Würde des Ministers, sich auf eine Affäre mit dir oder irgendeiner anderen Frau einzulassen. Er hat dich abgewiesen. Er hat dich nicht haben wollen.«
»Ja, Sir.«
»Es ist nichts Unschickliches geschehen. Kapiert? Der Minister hat weder mit dir noch mit einer anderen je etwas Unschickliches getan.«
»Ja, Sir«, greinte sie mit einem langgezogenen Schluchzer und ließ den Kopf hängen.
Snip zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihr die Augen ab. Selbst in dem schwachen Licht konnte er erkennen, daß ihre Schminke nach all dem Gereihere und Geheule ein wüstes Durcheinander war.
»Hör jetzt auf mit dem Geflenne, du verschmierst dir völlig das Gesicht. Am besten gehst du auf dein Zimmer und machst dich zurecht, bevor du auf das Fest zurückkehrst.«
Schniefend versuchte sie, ihre Tränen zu unterdrücken. »Ich kann jetzt nicht mehr auf das Fest zurück. Mein Kleid ist ruiniert. Ich kann unmöglich zurück.«
»Doch, du kannst und du wirst. Mach dein Gesicht zurecht und zieh dir ein anderes Kleid an. Du wirst zurückgehen. Noch ein einziger Patzer, und du bekommst den Stahl dieses Schwertes zu spüren.«