Sie riß vor Angst die Augen auf. »Wer…«
»Spielt keine Rolle. Das ist für dich ohne jede Bedeutung. Für dich zählt nur, daß du begriffen hast und weißt, was geschieht, wenn du noch einmal solche Lügen verbreitest.«
Sie nickte. »Ich habe verstanden.«
»Sir!« fuhr Snip sie an. »Ich habe verstanden, Sir.«
Sie drängte nach hinten gegen Morley. »Ich habe verstanden, Sir. Ja, Sir, ehrlich, ich habe verstanden.«
»Gut«, meinte Snip.
Sie blickte an sich herab. Ihre Unterlippe bebte. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Bitte, Sir, könnte ich mein Kleid in Ordnung bringen?«
»Wenn ich mit Reden fertig bin.«
»Ja, Sir.«
»Du bist draußen spazierengegangen. Du hast mit niemandem gesprochen. Kapiert? Mit niemandem. Von jetzt an hältst du einfach den Mund über den Minister, oder du bekommst ein Schwert in den Rachen, sobald du ihn das nächste Mal aufmachst. Hast du das alles begriffen?«
»Ja, Sir.«
»Na schön.« Snip fuchtelte mit der Hand. »Dann mach endlich und zieh dein Kleid wieder hoch.«
Morley schielte ihr lüstern über die Schulter, während sie sich richtete. Snip fand nicht, daß das Kleid mit seinem tiefen Ausschnitt im angezogenen Zustand weniger offenherzig war, aber zweifellos genoß er es, dabeizustehen und ihr beim Anziehen zuzusehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dergleichen jemals zu Gesicht zu bekommen, schon gar nicht bei einer Anderierin.
Nach der Art, wie sie sich keuchend aufrichtete, mußte Morley irgend etwas hinter ihr, oben unter dem Kleid, angestellt haben. Snip hätte ebenfalls gerne etwas angestellt, doch dann fiel ihm Dalton Campbell ein.
Snip packte Claudine Winthrop am Arm und zerrte sie ein paar Schritte vor. »So, und jetzt verschwinde, los.«
Sie warf Morley kurz einen verstohlenen Blick zu, dann sah sie Snip wieder an. »Ja, Sir. Danke.« Sie machte einen hastigen Knicks. »Vielen Dank, Sir.«
Ohne ein weiteres Wort raffte sie ihr Kleid, eilte die Stufen hinunter und rannte über den Rasen in die Nacht.
»Wieso hast du sie weggeschickt?« wollte Morley wissen. Er stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wir hätten uns mit ihr amüsieren können. Sie hätte alles getan, was wir wollen. Und nachdem ich gesehen hatte, was sie zu bieten hat, hätte ich gewollt.«
Snip beugte sich zu seinem verstimmten Freund hinüber. »Weil Meister Campbell nichts davon gesagt hat, wir könnten irgendwas dergleichen tun, deshalb. Wir haben Meister Campbell einen Gefallen getan, das ist alles. Mehr nicht.«
Morley machte ein unzufriedenes Gesicht. »Schon möglich.« Er blickte zum Holzstoß hinüber. »Wir haben noch immer eine ganze Menge zu trinken.«
Snip mußte an den verängstigten Ausdruck in Claudine Winthrops Gesicht denken. Er mußte daran denken, wie sie geheult und geschluchzt hatte. Natürlich wußte er, daß Hakenierinnen weinten, aber daß Anderierinnen weinten, hatte Snip bis dahin nicht einmal für möglich gehalten.
Der Minister war Anderier, Snip vermutete daher, daß er nie etwas wirklich falsch machen könnte. Bestimmt hatte sie das alles mit ihrem tief ausgeschnittenen Kleid und ihrem Verhalten ihm gegenüber provoziert. Snip hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sich viele Frauen ihm gegenüber aufspielten. Als hätten sie Spaß daran, wenn er sie nähme.
Er mußte daran denken, wie Beata weinend auf dem Fußboden gehockt hatte. Er mußte an den erbärmlichen Ausdruck auf Beatas Gesicht dort oben denken, als der Minister sie herausgeworfen hatte, nachdem er mit ihr fertig war.
Und Snip mußte daran denken, wie sie ihn geschlagen hatte. Das alles überstieg sein Begriffsvermögen. Im Augenblick wollte Snip nichts weiter, als sich bis zur Besinnungslosigkeit vollaufen zu lassen.
»Du hast recht. Gehen wir und genehmigen wir uns einen. Wir haben eine Menge zu feiern. Heute abend sind wir zu bedeutenden Männern geworden.«
Den Arm über die Schulter des anderen gelegt, schlugen sie den Weg zu der Stelle ein, wo ihre Flasche wartete.
20
»Na, wenn das keine Überraschung ist«, raunte Teresa. Dalton folgte ihrem Blick und sah, wie sich Claudine Winthrop unschlüssig ihren Weg durch den Saal voller umherschlendernder Menschen bahnte. Sie trug ein Kleid, das er von früher kannte, als er noch in der Stadt gearbeitet hatte. Es war nicht dasselbe Kleid, das sie zuvor an diesem Abend getragen hatte. Vermutlich war ihr Gesicht unter der dicken Schicht rosafarbenen Puders aschfahl, und zweifellos bestimmte Argwohn jetzt ihren Blick.
Menschen aus der Stadt Fairfield betrachteten, erfüllt von dem Bemühen, dies alles in sich aufzunehmen, um ihren Freunden bis in die kleinste Einzelheit von ihrem Abend auf dem prachtvollen Anwesen des Ministers für Kultur berichten zu können, staunenden Auges ihre Umgebung.
Eine Einladung auf das Anwesen galt als große Ehre, und niemand wollte sich irgendein Detail entgehen lassen. Details waren wichtig, wenn man die Absicht hatte anzugeben.
Zwischen den prächtig gefärbten, seltenen Teppichen, die der Länge nach in regelmäßigen Abständen über den gesamten Raum verteilt lagen, schimmerten Stellen edlen Parkettfußbodens durch. Das Gefühl luxuriösen, tiefen Einsinkens konnte unmöglich jemandem entgehen. Dalton vermutete, daß man für die girlandenartig vor den Reihen hoher Fenster mit ihrem von buntem Glas durchsetzten, komplizierten Ziergitterwerk zu beiden Seiten des Raumes aufgehängten Vorhänge Tausende von Metern feinsten Stoffes verwendet hatte. So manche Frau befühlte prüfend hier und da die überaus dichte Webart des Tuches. Die Ränder des himmelblau und goldweizenfarbenen Stoffes waren mit bunten Quasten verziert, so groß wie seine Faust. Die Männer bewunderten die gekehlten, sich entlang der Seitenwände erhebenden Steinsäulen, auf denen das massige, aus behauenem Stein gefertigte Kragstück am unteren Ende des Faßgewölbes der Halle ruhte. Das Faßgewölbes wurde von einem prächtigen Kranz aus gebogenen Mahagonirahmen und Paneelen überspannt, die wie die Enden eines fein geschliffenen Wölbsteins wirkten.
Dalton setzte den Zinnbecher an seine Lippen und trank, all dies musternd, einen Schluck feinsten Nareeftal-Weines. Nachts, wenn alle Kerzen und Lampen angezündet waren, schien dieser Raum zu erglühen. Anfänglich, als er hier angekommen war, hatte es einiges an Selbstdisziplin erfordert, nicht so zu glotzen wie hier vor ihm diese Menschen aus der Stadt, Er beobachtete, wie Claudine Winthrop sich unter den gutgekleideten Gästen bewegte, hier eine Hand ergriff, dort einen Ellenbogen berührte, hölzern lächelnd Leute begrüßte und Fragen mit Bemerkungen beantwortete, die Dalton nicht verstand. So geplagt sie, wie er wußte, auch sein mochte, besaß sie doch die nötige Gewandtheit, angemessen aufzutreten. Als Gattin eines reichen, von den Kaufleuten und Getreidehändlern zu deren Stellvertreter gewählten Geschäftsmannes war sie auch aus eigenem Recht kein unbedeutendes Mitglied des Hofes. Anfangs, als die Leute sahen, daß ihr Ehemann alt genug war, ihr Großvater zu sein, gingen sie im allgemeinen davon aus, sie sei nicht mehr als ein Zeitvertreib für ihn. Sie irrten sich.
Ihr Gatte, Edwin Winthrop, hatte als Farmer mit dem Anbau von Sorghum, süßem Zuckerrohr, angefangen. Jeder Penny, den er durch den Verkauf der von ihm selbst gepreßten Sorghummelasse verdiente, wurde ebenso sparsam wie umsichtig angelegt. Er nahm Entbehrungen in Kauf und ließ alles, angefangen bei angemessener Unterkunft und Kleidung über die einfachen Bequemlichkeiten des Lebens, bis hin zu Ehefrau und Familie, in einem Zustand der Ungewißheit.
Irgendwann reichte das Gesparte für den Ankauf von Vieh, das er mit jenem Sorghum fütterte, der beim Pressen der Melasse anfiel. Der Verkauf des gemästeten Viehs ermöglichte den Ankauf weiteren Zuchtviehs und von Destillerieeinrichtungen, so daß er in der Lage war, selber Rum herzustellen, anstatt seine Melasse an Destillerien zu verkaufen. Die Gewinne aus dem Rum, den er aus seiner eigenen Melasse destillierte, waren so beträchtlich, daß er weiteres Farmland hinzupachten sowie Vieh, Geräte und Gebäude für die Produktion von noch mehr Rum und schließlich sogar Lagerhäuser und Karren für den Transport der von ihm hergestellten Waren anschaffen konnte. Auf den Winthrop-Farmen destillierter Rum wurde von Renwold bis Nicobarese verkauft, vom Laden gleich um die Ecke in Fairfield bis hin nach Aydindril. Indem er alles selber machte – vom Anbau des Zuckerrohrs über das Pressen, das Destillieren und Ausliefern des Rums, die Aufzucht und Schlachtung des Viehs bis hin zum Transport der toten Tiere zu den Metzgern, hielt Edwin Winthrop seine Kosten gering und verdiente sich eine goldene Nase.