Linscott stöhnte unter der Last dieser Neuigkeiten. Jetzt wußte der Mann, warum man ihn zusammen mit den anderen Direktoren herzitiert hatte, zu diesem Treffen, von dem sie gedacht hatten, es sei nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Fest auf dem Anwesen. Der Herrscher kündigte seine Anwesenheit aus Sicherheitsgründen nur selten vorher an. Er war mit seiner eigenen, speziellen Garde und einem großen Gefolge von Dienern eingetroffen.
Teresas Gesicht glühte, als sie lächelnd zu Dalton aufsah, ungeduldig der kommenden Ereignisse des Abends harrend. Claudine starrte auf den Boden.
»Ladys und Gentlemen«, verkündete der Majordomus, »wenn es Euch beliebt, das Abendessen ist serviert.«
21
Sie breitete die Flügel aus und trug mit voller Stimme singend die düsteren Verse einer Geschichte vor, die älter war als jeder Mythos.
Mit einem unfaßbar lang anhaltenden Ton beschloß die junge Frau ihren berückenden Gesang. Die Gäste brachen in Beifall aus.
Es war eine altertümliche, lyrische Dichtung von Joseph Ander, die allein aus diesem Grund bereits sehr beliebt war. Früher einmal hatte Dalton in den alten Texten geblättert, um herauszufinden, was sich dem Lied an Bedeutung abgewinnen ließe, hatte jedoch nichts entdecken können, was Licht auf den eigentlichen Sinn des Textes geworfen hätte, der – da es sich um eine Anzahl verschiedener Versionen handelte – nicht immer derselbe war. Es gehörte zu jenen Liedern, die niemand recht verstand, die aber trotzdem jeder in Ehren hielt, weil es sich offenkundig um einen großen Erfolg eines der geliebten, ehrwürdigen Gründungsväter ihres Landes handelte. Der Tradition zuliebe wurde die einem nicht mehr aus dem Kopf gehende Melodie zu besonderen Anlässen vorgetragen.
Aus irgendeinem Grund konnte Dalton sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, daß der Text jetzt eine größere Bedeutung für ihn hatte als jemals zuvor. Fast schien er auf seltsame Weise beinahe schlüssig zu sein. So rasch wie dieser Eindruck sich einstellte, so schnell war das Gefühl, da er mit seinen Gedanken woanders war, auch wieder verflogen.
Die langen Ärmel der Frau schleiften über den Boden, als sie die Arme ausbreitete und sich erst vor dem Herrscher und dann noch einmal vor den applaudierenden Menschen an der Ehrentafel neben der Tafel des Herrschers verbeugte. Ein Baldachin aus Seide und Goldbrokat lief an der dahinterliegenden Wand hinauf und breitete sich dann in wallenden Falten über die beiden Ehrentafeln. Die Ecken des Baldachins wurden von übergroßen anderischen Lanzen gestützt. Das sollte den Eindruck erwecken, die Ehrentafeln stünden auf einer Bühne – was, vermutete Dalton, in gewisser Weise sogar zutraf.
Die Sängerin verneigte sich vor den Speisenden an den langen Tischreihen parallel zu den beiden Seiten des Speisesaales. Ihre Ärmel waren mit den gescheckten Federn der Schnee-Eule besetzt, so daß sie, sobald sie die Arme ausbreitete, sich in eine beflügelte Frau zu verwandeln schien, ein Wesen aus einer jener altertümlichen Geschichten, die sie vorgetragen hatte.
Stein, auf der anderen Seite des Ministers und seiner Frau, applaudierte teilnahmslos; zweifellos stellte er sich die Frau ohne ihr Federkleid vor. Rechts von Dalton unterlegte Teresa ihren Applaus mit begeisterten Beifallsrufen. Dalton unterdrückte, während er klatschte, ein Gähnen.
Die Sängerin entfernte sich mit großen Schritten, die Arme hoch erhoben, um sich mit ihren Flügeln für die ihr nachklingenden Pfiffe erkenntlich zu zeigen. Nachdem sie abgegangen war, betraten vier Knappen von der gegenüberliegenden Seite den Raum, in den Händen eine Plattform, auf der ein Schiff aus Marzipan in einem Meer aus Marzipanwellen trieb. Die geblähten Segel des Schiffes sahen aus, als seien sie aus Zucker.
Der Sinn des Ganzen bestand in der Ankündigung, beim nächsten Gang werde es sich um Fisch handeln, ganz so, wie der Hirsch aus Blätterteig, verfolgt von ebensolchen Hunden, die über eine Stechpalmenhecke mit einem darin verborgenen Wildschwein aus Aspik hinwegsetzten, einen der Fleischgänge und der ausgestopfte Adler mit seinen riesigen, über einer aus Karton errichteten Ansicht der Hauptstadt Fairfield ausgebreiteten Flügeln einen Geflügelgang angekündigt hatte. Eine oben auf der Galerie geschmetterte Fanfare und ein Trommelwirbel unterstrichen die Ankündigung des nächsten Ganges mit Musik.
Bislang waren fünf Gänge aufgetragen worden, jeder aus wenigstens einem Dutzend Spezialitäten bestehend. Was bedeutete, es würden noch sieben weitere folgen, jeweils mit mindestens einem Dutzend charakteristischer Speisen. Musik von Flöten, Querpfeifen und Trommeln sowie Jongleure, Troubadoure und Akrobaten unterhielten die Gäste zwischen den Gängen, während ein Baum mit kandierten Früchten die Runde um die Tische machte. Zum Entzücken aller Anwesenden wurden mechanische Pferde verteilt, deren Beinpaare sich über Kreuz in unterschiedliche Richtungen bewegen ließen.
An Fleischspeisen war alles aufgefahren worden, angefangen bei Teresas ewigem Lieblingsgericht aus Jungtieren – sie hatte drei der jungen Kaninchen verspeist –, bis hin zu Rehkitz, Schwein, Kalb sowie einem auf den Hinterbeinen stehenden Bären. Der Bär wurde von Tisch zu Tisch gerollt, an jedem Tisch wurde sein Fell, das man über den geschmorten Rumpf drapiert hatte, zur Seite gezogen, so daß die Trancheure Stücke für die Gäste herunterschneiden konnten. Geflügel gab es angefangen bei ebenjenen Spatzen, die beim Minister wegen ihrer Belebung der Lust beliebt waren, über Tauben, eine Schwanenhalspastete und Adler, bis hin zu gebackenen Reihern, denen man ihr Federkleid wieder angesteckt hatte und die mittels einer Drahtkonstruktion als Schwarm im Flug dargestellt waren.
Niemand erwartete, daß jeder eine derartige Fülle von Speisen verzehrte. Die Vielfalt sollte eine überreiche Auswahl bieten, nicht nur zur Freude der verehrten Gäste, sondern auch, um sie mit solcher Opulenz in Erstaunen zu versetzen. Ein Besuch auf dem Anwesen des Ministers für Kultur war ein Ereignis, an das man lange zurückdachte und das für viele zu einer legendären Veranstaltung wurde, von der man jahrelang sprach.
Die meisten hielten, während sie von den Speisen kosteten, ein Auge auf die Ehrentafel, wo der Minister mit zwei reichen Hintermännern saß, die er aufgefordert hatte, an seinem Tisch zu speisen, sowie auf das andere Ziel großen Interesses: den Abgesandten der Imperialen Ordnung. Stein war unter dem allgemeinen, erstaunten Getuschel über seinen kriegerischen Aufzug und den Übermantel aus menschlichen Skalps bereits vorzeitig eingetroffen. Er galt als Sensation und zog die einladenden Blicke einer Reihe von Frauen auf sich, die bei der Aussicht, einen solchen Mann in ihr Bett zu locken, weiche Knie bekamen.