Dalton wischte sich mit der Hand über den Mund, während sie seinem Blick auswich. »Nun, der Punkt ist folgender, des öfteren erwähnt der Minister, wie sehr er Edwin schätzt – für all die ungerühmte Arbeit, die Edwin leistet –, daher schlug ich dem Minister vor, es wäre an der Zeit, unserer Hochachtung für Edwins aufopferungsvolle Arbeit und Hingabe auf irgendeine Weise Ausdruck zu verleihen.
Der Minister gab mir inbrünstig recht und sprang sogleich auf den Vorschlag an, im Titel des neuen Gesetzes zu vermerken, daß der Abgeordnete Edwin Winthrop dieses Gesetz eingebracht habe und selbst dafür verantwortlich zeichne. Der Minister möchte darüber hinaus, daß es – Eurem Gemahl und, wegen der vielen Arbeit, die Ihr leistet, natürlich auch Euch zu Ehren – das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Beschäftigungsverhältnisse‹ genannt wird. Jeder weiß, wie weit Ihr an den Gesetzen beteiligt seid, die Edwin entwirft.«
Mittlerweile sah Claudine ihn wieder an; sie schlug sich die Hand vor die Brust.
»Aber Meister Campbell, das ist überaus großzügig, sowohl von Euch als auch von Seiten des Ministers. Ich bin völlig überrascht, und Edwin wäre es ohne Zweifel auch. Wir werden das Gesetz ganz bestimmt so schnell wie möglich prüfen, damit es möglichst umgehend in Kraft treten kann.«
Dalton verzog das Gesicht. »Nun, die Sache ist die, soeben informierte mich der Minister, er sei geradezu versessen darauf, es noch heute abend anzukündigen. Ich hatte Euch ursprünglich einen Entwurf des Gesetzes mitbringen wollen, damit Ihr und Edwin es vor der Bekanntgabe prüfen könnt, doch da jetzt sämtliche Direktoren anwesend sind, hat der Minister beschlossen, daß er nach bestem Wissen und Gewissen handeln muß – er kann es nicht länger ertragen, mit ansehen zu müssen, wie diese Männer noch einen weiteren Tag ohne Arbeit sind. Sie haben schließlich ihre Familien zu ernähren.«
Claudine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nun, ja, ich denke … ich verstehe, aber eigentlich…«
»Gut. Sehr gut. Das ist wirklich überaus zuvorkommend von Euch.«
»Aber ich sollte wenigstens einen Blick darauf werfen. Ich muß es mir wirklich ansehen. Edwin würde wollen…«
»Ja, selbstverständlich. Ich habe vollstes Verständnis und versichere Euch, Ihr werdet auf der Stelle eine Kopie erhalten – gleich als erstes morgen früh.«
»Aber was ich sagen wollte…«
»In Anbetracht der Tatsache, daß alle anwesend sind, ist der Minister fest entschlossen, es noch heute abend anzukündigen. Der Minister möchte weder das Inkrafttreten hinauszögern noch von seinem Wunsch Abstand nehmen müssen, einen solchen Markstein der Gesetzgebung mit dem Namen Winthrop zu versehen. Zudem hoffte der Minister so sehr darauf, der Herrscher würde, da er nun mal heute abend hier ist – wir alle wissen doch, wie selten seine Besuche sind –, von dem ›Winthrop-Gesetz für gerechte Beschäftigungsverhältnisse‹ erfahren, das eigens entworfen wurde, um Menschen zu helfen, die anderweitig keine Hoffnung haben. Der Herrscher kennt Edwin und wäre ohne Zweifel überaus erfreut.«
Claudine wagte einen verstohlenen Blick auf den Herrscher. Sie benetzte ihre Lippen. »Aber…«
»Wollt Ihr, daß ich den Minister bitte, das Gesetz aufzuschieben? Bitte bedenkt dabei, daß dem Herrscher dadurch die Verkündigung entginge, auch wäre der Minister sehr enttäuscht, die Gelegenheit verstreichen und jene Kinder im Stich lassen zu müssen, die darauf angewiesen sind, daß er ihnen ein besseres Leben ermöglicht. Ihr versteht doch sicher, daß dies im Grunde nur den Kindern zuliebe geschieht.«
»Gewiß. Aber um…«
»Claudine«, fiel Dalton ihr ins Wort und ergriff mit beiden Händen ihre Hand, »Ihr habt keine Kinder, ich sehe daher ein, wie schwierig es für Euch sein muß, Euch in Eltern hineinzufühlen, die verzweifelt ihre Kleinen zu ernähren versuchen, die verzweifelt nach Arbeit suchen, wo es keine gibt, aber bemüht Euch doch wenigstens zu begreifen, wie verunsichert sie sein müssen.«
Sie öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Er fuhr fort und ließ ihr einfach keine Zeit, ihren Einwand zu formulieren.
»Versucht Euch vorzustellen, was es bedeutet, wenn man als Mutter oder Vater Tag für Tag warten muß, sei es auf einen Grund zur Hoffnung, sei es darauf, daß irgendwas geschieht, damit man Arbeit findet und seinen Kindern zu essen geben kann. Könnt Ihr nicht helfen? Könnt Ihr nicht versuchen zu verstehen, wie sich eine junge Mutter dabei fühlen muß?«
Ihr Gesicht war aschfahl geworden.
»Selbstverständlich«, meinte sie schließlich leise. »Ich verstehe das, wirklich. Ich möchte helfen, und ich bin mir sicher, Edwin wird erfreut sein, zu erfahren, daß man ihn zum Schirmherrn dieses Gesetzes ernannt hat…«
Doch bevor sie weitersprechen konnte, hatte Dalton sich bereits erhoben. »Ich danke Euch, Claudine.« Er ergriff abermals ihre Hand und küßte sie. »Der Minister wird überaus erfreut sein, von Eurer Unterstützung zu erfahren – genau wie all jene Männer, die jetzt Arbeit finden werden. Ihr habt ein gutes Werk für die Kinder getan. Ganz sicher blicken die Guten Seelen in diesem Augenblick lächelnd auf Euch herab.«
Dalton war gerade an die Ehrentafel zurückgekehrt, als die Knappen abermals die Runde machten und rasch eine Schildkrötenpastete in der Mitte eines jeden Tisches plazierten. Verwundert betrachteten die Gäste die Pasteten, deren Krusten gevierteilt, aber nicht ganz durchgeschnitten waren. Teresa beugte sich stirnrunzelnd vor und bestaunte die in der Mitte der Ehrentafel, genau vor dem Minister und seiner Gemahlin, abgestellte Pastete.
»Dalton«, flüsterte sie, »die Pastete hat sich von allein bewegt.«
Dalton verkniff sich ein Lächeln. »Du irrst dich bestimmt, Teresa. Eine Pastete kann sich nicht bewegen.«
»Aber ich bin ganz sicher…«
In diesem Augenblick brach die Kruste auseinander, und ein Teil von ihr wurde angehoben. Eine Schildkröte streckte den Kopf heraus und spähte den Minister an. Eine Kralle schloß sich um den Rand, und die Schildkröte zog sich heraus, gefolgt von einer zweiten. Sämtliche Gäste im Saal lachten überrascht, sie applaudierten und verfielen in staunendes Raunen, als eine Schildkröte nach der anderen aus den Pasteten zu klettern begannen.
Selbstverständlich waren die Schildkröten nicht bei lebendigem Leib in den Pasteten gebacken worden. Man hatte diese mit einer Füllung aus getrockneten Bohnen ausgebacken. Nachdem sich eine Kruste gebildet hatte, wurde ein Loch in den Boden geschnitten, um die Bohnen zu entnehmen und die Schildkröten hineinzusetzen. Daraufhin hatte man die Krusten eingeschnitten, damit sie leicht aufzubrechen waren und die Tiere auch tatsächlich entkommen konnten.
Die Schildkrötenpasteten waren als eine der Belustigungen des Festes ein riesiger Erfolg, alle waren von dem Spektakel hingerissen. Gelegentlich wurden Schildkröten, manchmal auch Vögel, eigens für den Zweck gezüchtet, bei einem Festessen zum Vergnügen und Erstaunen der Gäste aus Pasteten hervorzuspringen.
Während Knappen mit Holzeimern die Runde um die Tische machten, um die befreiten Schildkröten einzusammeln, rief Lady Chanboor den Kämmerer herbei und bat ihn, die vor dem nächsten Gang eingeplante Unterhaltungseinlage ausfallen zu lassen. Als sie sich erhob, wurde es still im Saal.
»Verehrte Gäste, dürfte ich um Eure Aufmerksamkeit bitten.« Hildemara sah sich nach beiden Seiten des Saales um und vergewisserte sich, daß aller Augen auf sie gerichtet waren. Ihr Plisseekleid schien ein kaltes, silbriges Licht zu verströmen. »Es gilt als höchste Berufung und Pflicht, seinen in Not geratenen Mitmenschen zu helfen. An diesem Abend werden wir hoffentlich dem Vorhaben, den Kindern Anderiths zu helfen, einen Schritt näher kommen. Es ist ein kühner Schritt, ein Schritt, der Mut erfordert. Glücklicherweise haben wir ein Vorbild für diesen Mut.
Es ist mir eine große Ehre, Euch den großartigsten Mann vorzustellen, den kennenzulernen mir je vergönnt war, einen Mann der Unbescholtenheit, einen Mann, der sich unermüdlich für sein Volk einsetzt, einen Mann, der nie die Bedürfnisse jener aus dem Blick verliert, die uns am meisten brauchen, einen Mann, dem an einer besseren Zukunft mehr gelegen ist als an allem anderen, meinen Gatten, den Minister für Kultur, Bertrand Chanboor.«