»Das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Arbeitsverhältnisse‹ erfüllt genau das, was sein Name verspricht«, erläuterte Bertrand schließlich, »es schafft gerechte und für alle offene anstelle von privilegierten und nicht jedermann offenstehenden Arbeitsverhältnissen. Angesichts der unverzichtbaren öffentlichen Vorhaben liegt viel Arbeit vor uns, wenn wir den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden wollen.«
Der Minister ließ seinen entschlossenen Blick über die Menge schweifen.
»Eine Bruderschaft jedoch hält an überholten Vorrechten fest und behindert damit den Fortschritt. Versteht mich nicht falsch, diese Männer hegen hohe Ideale und sind harte Arbeiter, es ist jedoch an der Zeit, die Türen dieser archaischen Ordnung aufzustoßen, die lediglich dem Schutz einiger weniger dient.
Das neue Gesetz soll daher jedem eine Anstellung ermöglichen, der bereit ist, sich ins Zeug zu legen – und nicht nur Angehörigen einer geschlossenen Bruderschaft der Gilde der Steinmetze.«
Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Menge. Bertrand ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken.
»Schlimmer noch, wegen dieser nach außen abgeschirmten Gilde, deren geheime und unnötig strenge Anforderungen nur wenige erfüllen, liegen die für das Volk Anderith anfallenden Kosten der durch sie ausgeführten öffentlichen Bauvorhaben erheblich höher, als würde man arbeitswillige Männer arbeiten lassen.« Der Minister schüttelte drohend seine Faust. »Diese unerhörten Kosten tragen wir alle!«
Direktor Linscott war fast violett vor unterdrücktem Zorn.
Aus Bertrands geballter Faust löste sich ein Finger, den dieser auf die Menge richtete.
»Das ungeheure Fachwissen des Steinmetzes sollte zweifellos Verwendung finden. Dank dieses neuen Gesetzes jedoch wird es darüber hinaus möglich sein, den ganz gewöhnlichen Arbeiter unter der Aufsicht der Steinmetze zu beschäftigen, deren Kinder dann keinen Hunger mehr erleiden müßten, nur weil ihre Väter arbeitslos sind.«
Zur Unterstreichung jedes einzeln angeführten Punktes schlug der Minister mit der Faust in seine Hand.
»Ich rufe die Direktoren der Gesellschaft für Kulturelle Zusammenarbeit auf, uns jetzt durch Handzeichen ihre Unterstützung für die Einstellung hungernder Menschen zu bekunden, ihre Unterstützung für die Regierung, die endlich in der Lage sein wird, Vorhaben zu einem angemessenen Preis zu Ende zu führen, indem sie arbeitswillige Menschen einstellt und nicht bloß die Mitglieder einer geheimen Gesellschaft von Steinmetzen, die ihre eigenen Wucherpreise festsetzt, für die wir alle geradestehen müssen! Ich bitte um Eure Unterstützung für die Kinder! Um Eure Unterstützung für das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Arbeitsverhältnisse!‹«
Direktor Linscott sprang auf. »Ich protestiere gegen eine solche Abstimmung durch Handzeichen! Wir hatten noch nicht einmal Gelegenheit…«
Er verstummte, als er den Herrscher die Hand heben sah.
»Falls die anderen Direktoren uns ihre Unterstützung bekunden möchten«, sprach der Herrscher mit klarer Stimme in die Stille hinein, »dann sollten die hier Anwesenden dies wissen, damit niemand falsches Zeugnis ablegen kann vom aufrichtigen Willen eines jeden Mannes. Es kann nicht schaden, die Meinung der Direktoren einzuholen, solange sie alle anwesend sind. Eine Abstimmung per Handzeichen ist noch nicht das letzte Wort und entzieht die Angelegenheit, bevor sie zum Gesetz wird, keinesfalls der Diskussion.«
Die Ungeduld des Herrschers hatte den Minister soeben unbewußt vor der Notwendigkeit bewahrt, eine Abstimmung zu erzwingen. Es war zwar richtig, daß eine Abstimmung das Gesetz nicht endgültig machen würde, ein sich durch die Gilden und sämtliche anderen Berufsstände ziehender Riß hätte in diesem Fall jedoch genau dies zur Folge.
Dalton mußte nicht lange auf das Handzeichen der anderen Direktoren warten. Für die Gilden kam das durch den Minister verkündete Gesetz einem Todesurteil gleich, und der Minister hatte sie alle soeben das Aufblinken der Henkersaxt sehen lassen.
Den Grund würden sie zwar niemals erfahren, dennoch war allen Direktoren klar, daß man es auf einen aus ihren Reihen abgesehen hatte. Nur vier der Direktoren waren Gildenmeister, trotzdem waren die anderen nicht weniger angreifbar. Möglicherweise kürzte man den Geldverleihern den erlaubten Zins oder verbot diesen sogar ganz, möglicherweise änderte man den Kaufleuten ihre Handelspräferenzen und -wege, möglicherweise setzte man die Gebühren der Rechtsbeistände und Anwälte per Gesetz auf eine Höhe fest, die sich sogar Bettler leisten konnten. Kein Stand war vor einem neuen Gesetz sicher, hatten die ihm Angehörigen erst einmal das Mißfallen des Ministers erregt.
Verweigerten die anderen Direktoren in dieser Angelegenheit dem Minister ihre Unterstützung, konnte sich die Klinge gegen ihre Gilde oder ihren Stand richten. Der Minister hatte eine öffentliche Abstimmung per Handzeichen und keine Geheimabstimmung gefordert, was darauf hindeutete, daß sich die Axt nicht auf sie niedersenken würde, vorausgesetzt, sie spielten mit.
Claudine sank auf ihren Stuhl. Ihr war die Bedeutung ebenfalls bewußt. Früher war es Männern nur dann erlaubt, den Beruf des Steinmetzes auszuüben, wenn sie Mitglied der Steinmetzgilde waren. Die Gilde legte Ausbildung, Vorgaben und Preise fest, schlichtete in Streitfällen, teilte die Arbeiter je nach Bedarf den verschiedenen Aufträgen zu, kümmerte sich um verletzte oder erkrankte Mitglieder und unterstützte die Witwen derer, die in Ausübung ihres Berufes ums Leben gekommen waren. Erlaubte man ungelernten Arbeitern, als Steinmetze zu arbeiten, gingen den Gildenmitgliedern ihre Löhne als gelernte Kräfte verloren. Es wäre das Ende der Steinmetzgilde.
Für Linscott wäre es das Ende seiner Laufbahn. Für den Verlust ihres Schutzes durch das Gildengesetz unter seiner Aufsicht als Direktor würden die Steinmetze ihn innerhalb eines Tages seines Amtes entheben. Von nun an würden die Ungelernten arbeiten, und Linscott wäre ein Verstoßener.
Und selbstverständlich würden die Bauvorhaben des Landes am Ende teurer werden. Ungelernte Arbeiter waren schließlich ungelernt. Wer seinen Preis hatte, aber wußte, was er tat, war letzten Endes billiger, und die Arbeit wurde korrekt ausgeführt.
Einer der Direktoren hob die Hand und bekundete damit seine formlose, nach allen praktischen Erwägungen aber endgültige Zustimmung zu dem Gesetz. Die anderen verfolgten das Heben dieser Hand wie einen Pfeil, der sich in die Brust eines Mannes senkt, um sein Herz zu durchbohren. Dieser Mann war Linscott. Niemand war gewillt, sein Schicksal zu teilen. Eine nach der anderen gingen die Hände der Direktoren in die Höhe, bis es elf an der Zahl waren.
Linscott bedachte Claudine mit einem mörderischen Blick, dann verließ er erhobenen Hauptes das Fest. Claudine senkte ihr aschfahles Gesicht.
Dalton begann, den Direktoren zu applaudieren. Der Beifall riß alle aus dem düsteren Drama, und die Menschen fielen nach und nach in seinen Beifall ein. Wer in Claudines Nähe saß, ging dazu über, ihr zu gratulieren und zu erklären, welches Wunder sie und ihr Gatte für die Kinder Anderiths vollbracht hätten. Erste Stimmen wurden laut, die sich über den Eigensinn der Steinmetze empörten. Bald hatte sich eine Schlange aus dankbaren Menschen gebildet, um an ihr vorbeizudefilieren und sich namentlich auf die Seite des Ministers für Kultur und dessen Mut zur Gerechtigkeit zu schlagen.
Claudine schüttelte allen die Hand, brachte aber nur ein blasses Lächeln zustande.
Direktor Linscott würde sich wahrscheinlich nie wieder anhören wollen, was Claudine Winthrop ihm mitzuteilen hatte.
Stein sah herüber und bedachte Dalton mit einem verschlagenen Grinsen. Hildemara schickte ein selbstzufriedenes Feixen in seine Richtung, und ihr Gatte gab Dalton einen Klaps auf den Rücken.
Als alle wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, setzte die Harfenspielerin soeben an, mit gespreizten Fingern einen Akkord anzuschlagen, als der Herrscher abermals die Hand erhob. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als er das Wort ergriff.