Roberta sammelte Pilze, um sie auf dem Markt zu verkaufen; manche frisch, andere getrocknet, einige eingelegt, wieder andere auf unterschiedlichste Weise zubereitet. Die meisten Menschen nannten sie Pilzfrau und kannten sie auch unter keinem anderen Namen. Auf dem Markt verkauft, halfen die Pilze ihrer Familie, ein wenig Geld als Tauschmittel für die Dinge zu verdienen, die das Leben leichter machten: Nadel und Faden, etwas fertiges Tuch, Schnallen und Knöpfe, eine Lampe, Öl, Salz, Zucker, Zimt, Nüsse – Dinge, die ein sorgloseres Dasein ermöglichten. Ein sorgloseres Dasein für ihre Familie, und insbesondere für ihre vier noch lebenden Enkelkinder. Robertas Pilze verhalfen ihnen zu all jenen Dingen, die sie als Ergänzung dessen benötigten, was sie selber anbauten oder herstellten.
Natürlich ließen sie sich auch gut essen. Am liebsten mochte sie die Pilze, die in den Wäldern oben auf dem Berg und nicht unten im Tal wuchsen. Die Pilze, die dort oben häufig von den tief hängenden Wolken heimgesucht wurden, gediehen in dem feuchten Klima überaus gut. Sie war stets der Ansicht gewesen, es gebe keine besseren Pilze als die von oben auf dem Gipfel, und viele Menschen suchten sie extra wegen dieser Bergpilze auf. Zudem hatte Roberta ihre geheimen Stellen, wo sie jedes Jahr die allerbesten Exemplare fand. Die großen Taschen ihrer Schürze waren, genau wie der Sack über ihrer Schulter, sichtlich voll und rund gefüllt.
Wegen der frühen Jahreszeit hatte sie hauptsächlich ausgedehnte Haufen braungelber Austernpilze entdeckt. Ihre fleischigen, zarten Hüte waren am besten, wenn man sie in Ei wälzte und briet, sie würde sie daher frisch verkaufen. Sie hatte jedoch Glück gehabt und würde Pfifferlinge sowohl zum Trocknen als auch frisch anbieten können. Außerdem hatte sie eine stattliche Anzahl von Fasanenrückenpilzen gefunden, die man am besten einlegte, wenn man den höchsten Preis erzielen wollte.
An den meisten Stellen war es für Wollsamtpilze noch zu früh, später im Sommer dagegen waren sie durchaus weit verbreitet. Sie hatte trotzdem eine ihrer Lieblingsstellen aufgesucht, wo es eine Vielzahl von Fichtenstümpfen gab, und dort einige der ockerfarbenen Wollsamtpilze entdeckt, die zur Herstellung von Farbstoff verwendet wurden. Roberta hatte sogar eine faulige Birke mit einem Büschel rauchig brauner Polyporlinge ausfindig gemacht. Die nierenförmigen Pilze wurden gerne von Köchen benutzt, um ein Feuer in Gang zu halten, sowie von Männern, um ihre Rasiermesser abzuziehen.
Auf ihren Wanderstab gestützt, bückte sich Roberta über einen harmlos aussehenden Pilz von bräunlicher Farbe. Er hatte einen Ring um seinen schmutzig weißen Stengel. Sie sah, daß die gelblichen Lamellen im Begriff waren, eine rostrote Farbe anzunehmen, auch für diesen Pilz war es die richtige Jahreszeit. Mit einem Grunzen machte sie ihrem Mißfallen Luft, ließ den tödlich giftigen Nadelholzhäubling stehen und ging weiter.
Unter die ausladenden Zweige einer Eiche zurückgekehrt, deren Umfang dem ihrer beiden Ochsen entsprach, wenn sie Schulter an Schulter ins Joch gespannt wurden, pflückte sie drei würzige Pfifferlinge von stattlicher Größe. Diese besonders würzige Sorte wuchs fast ausschließlich unter Eichenholz; sie waren bereits von Gelb zu Orange übergegangen, würden also ausgezeichnet schmecken.
Roberta wußte genau, wo sie sich befand, allerdings hatte sie ihren gewohnten Pfad verlassen, daher war ihr die riesige Eiche zuvor nie aufgefallen. Als sie die Baumkrone erblickte, wußte sie augenblicklich, daß dies wegen des dichten Schattens eine gute Stelle für Pilze sein mußte. Sie wurde nicht enttäuscht.
Am Fuß der Eiche, rings um die Stelle, wo dieser aus dem Erdboden wuchs, entdeckte sie zu ihrem Entzücken ein Büschel kleiner Röhrlinge oder Rindervenen, wie manche sie nannten, weil die aufrechten, roten Röhren manchmal eine kräftig rote Farbe aufwiesen, die an ein zusammengebundenes, auf gleicher Höhe abgeschnittenes Bündel Adern erinnerte. Diese hier waren allerdings eher rosa, Roberta hielt dennoch nicht viel von ihnen. Manche kauften sie allerdings wegen ihres herben Geschmacks, außerdem waren sie eher selten, daher erzielten sie einen anständigen Preis.
Unter dem Baum, im tiefen Schatten, stand ein Ring aus Seelenglocken, so genannt wegen ihrer glockenartigen Hüte. Sie waren nicht giftig, wegen ihres bitteren Geschmacks und ihres hölzernen Fleisches mochte sie jedoch niemand. Schlimmer noch, die Menschen glaubten, jeder, der in ihren Ring trat, würde verhext werden, daher weigerten sich die meisten Menschen, die wunderhübschen Seelenglocken auch nur anzusehen. Schon seit sie laufen gelernt und ihre Mutter sie zum Pilzesuchen mitgenommen hatte, war Roberta durch Seelenglockenringe gelaufen. Sie hielt nicht viel von diesem Aberglauben über ihre geliebten Pilze, trat in den Ring der Seelenglocken, stellte sich vor, ihre feinen Glöckchen zu hören, und sammelte die kleinen Röhrlinge ein.
Einer der ausladenden Äste der Eiche hing tief genug, um einen Sitz zu bilden. Er war so breit wie ihre üppige Hüfte und so bequem und trocken, daß man sich gut darauf niederlassen konnte.
Roberta ließ ihren Sack zu Boden gleiten. Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte sie ihre müden Knochen an einen anderen Ast, der gerade im richtigen Winkel nach oben gebogen war, um Schulter und Kopf abzustützen. Der Baum schien sie wie eine schützende Hand zu umschließen.
Versunken in einen Tagtraum hielt sie es für einen Teil des Traumes, als sie ein Flüstern hörte, das wie ihr Name klang. Es war ein angenehmes, leises Geräusch, mehr eine Ahnung schöner Dinge und angenehmer Gedanken denn ein Wort.
Beim zweiten Mal wußte sie, es gehörte nicht zu ihrem Tagtraum, zudem war sie jetzt sicher, daß es ihr Name war, der dort gesprochen wurde, wenn auch auf eine Weise, die sehr viel intimer war als ein gesprochenes Wort.
Entscheidend war, daß die Art, wie es gesprochen wurde, eine Saite ihres Herzens zum Klingen brachte. Es klang wie die Musik der Seele selbst: voller Freundlichkeit, Mitgefühl und Wärme. Sie seufzte leise, es machte sie glücklich, legte sich über sie wie der wärmende Schein der Sonne an einem kühlen Tag.
Beim dritten Mal setzte sie sich auf, um nachzusehen. Sie sehnte sich danach, den Ursprung einer so bezaubernden Stimme zu ergründen. Noch in der Bewegung hatte sie das Gefühl, Teil eines ihrer Tagträume zu sein, friedvoll und zufrieden. Der Wald ringsum schien in der Morgensonne zu funkeln, zu erglühen.
Roberta entfuhr ein leises Stöhnen, als sie ihn nicht weit entfernt erblickte.
Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, und doch kam es ihr so vor, als hätte sie ihn immer schon gekannt. Sie begriff, daß er ein altvertrauter Freund war, ein Labsal, ein Verbündeter im Geiste seit der Jugendzeit, obwohl sie zuvor nie viel darüber nachgedacht hatte. Er war es, der ihr auf Schritt und Tritt gefolgt war, wie es schien. Der, an den sie immer dachte, wenn sie sich ihren Tagträumen hingab. Das vage und dennoch so bekannte Gesicht.
Jetzt wurde ihr bewußt, er war ebenso wirklich, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, wenn sie ihn in ihren Phantasien küßte, was sie getan hatte, seit sie alt genug war, um zu wissen, daß ein Kuß mehr war als das, was die Mutter einem vor dem Zubettgehen gab. Seine Küsse gab es im Bett, voller Wärme und Innigkeit.
Sie hatte nie geglaubt, er könnte wirklich sein, doch jetzt war sie sicher, es immer schon gewußt zu haben. So wie er dort stand und ihr in die Augen sah, wie konnte er da nicht wirklich sein? Sein wirres Haar ließ sein strahlendes Gesicht frei, und man sah sein freundliches Lächeln, wenn es sie auch verwirrte, daß sie nicht hätte sagen können, wie er nun tatsächlich aussah. Gleichzeitig jedoch war ihr sein Gesicht ebenso vertraut wie das eigene.
Außerdem kannte sie alle seine Gedanken, genau wie er alle ihre Gedanken und Sehnsüchte kannte. Er war ihr wahrer Seelenverwandter.