Sie kannte seine Gedanken und brauchte seinen Namen nicht. Daß sie seinen Namen nicht kannte, war lediglich Beweis dafür, daß sie auf einer geistigen Ebene miteinander verbunden waren, die über Worte hinausging.
Und nun war er aus dem Dunst dieser spirituellen Welt herausgetreten, denn er gehörte zu ihr wie sie zu ihm.
Er reichte ihr seine perfekt geformte Hand. Sein Lächeln war wissend, liebevoll und freundlich. Er verstand sie, verstand Dinge bei ihr, die nie ein anderer würde verstehen können. Sie weinte vor Freude über dieses Verständnis, das Verständnis für ihre Seele.
Seine Hand öffnete sich für sie, er lockte sie mit seinem Verlangen. Roberta griff nach seiner Hand und spürte tief in ihrem Herzen, wie sehr es sie nach ihm verlangte.
Fast glaubte sie zu schweben. Ihre Füße streiften den Erdboden so leicht wie ein Atemhauch, der einen Blütenflaum erfaßt. Ihr Körper trieb wie Pflanzen im Wasser, als sie sich nach ihm reckte, nach seiner Umarmung.
Je näher sie kam, desto wärmer wurde ihr. Nicht warm wie von der Sonne auf ihrem Gesicht, sondern warm wie von um den Hals geschlungenen Kinderarmen. Warm wie die Arme ihrer Mutter auf ihrem Körper, wie das Lächeln und der süße Kuß eines Geliebten.
Ihr gesamtes Leben lief auf diesen einen Punkt hinaus, auf das Verlangen, in seine Arme zu sinken und seine zärtliche Umarmung zu spüren, auf das Verlangen, ihm ihre Sehnsucht zuzuflüstern, weil sie wußte, er würde es verstehen, auf das Verlangen nach dem zarten Hauch von seinen Lippen an ihrem Ohr, wenn er ihr sagte, er verstehe sie.
Sie brannte darauf, ihm flüsternd ihre Liebe zu gestehen, zu hören, wie er das Flüstern erwiderte.
Nach nichts in ihrem Leben sehnte sie sich mehr als nach diesen Armen, die ihr so vertraut erschienen.
Ihre Muskeln waren nicht mehr müde, ihre Glieder taten nicht mehr weh. Sie war nicht länger alt, die Jahre waren von ihr abgefallen wie Kleider in den befreienden Händen eines Geliebten, bevor sie dazu übergingen, sich mit dem wahren Wesen ihres Seins zu befassen.
Wegen ihm, ihm allein, stand sie wieder in der einnehmenden Blüte ihrer Jugend, wo alles möglich war.
Ganz ruhig streckte er ihr die Arme entgegen, sein Verlangen nach ihr war ebenso groß wie ihres nach ihm. Sie streckte sich nach seiner Hand, doch sie schien weiter weg, sie streckte sich noch mehr, und wieder war sie weiter fort.
Ein jähes Gefühl der Panik überkam sie, als sie Angst bekam, er könnte verschwunden sein, bevor sie ihn endlich berühren konnte. Ihr war, als schwimme sie in Honig und käme nicht voran. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach seiner Berührung gesehnt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt, sich ihm anzuvertrauen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt, ihre Seele mit der seinen zu vereinen.
Und jetzt entglitt er ihr.
Roberta, die Beine bleischwer, sprang durch die frühlingshafte Sonne, durch die süße Luft, und lief ihrem Geliebten in die Arme.
Und wieder war er weiter fort.
Er öffnete die Arme, um sie zu empfangen. Sie spürte sein Verlangen. Sie sehnte sich danach, ihn zu trösten, ihn vor Leid zu bewahren, sein Streben zu erleichtern.
Er spürte ihre Sehnsüchte, rief laut ihren Namen, um sie in ihrem Bemühen zu bestärken, zu ihm zu kommen. Als sie den Namen von seinen Lippen hörte, ging ihr das Herz vor Freude auf. Es ging ihr auf, während sie das quälende Verlangen spürte, die Leidenschaft zu erwidern, die er in ihren Namen legte.
Weinend flehte sie, seinen Namen zu erfahren, jetzt, da sie ihrer unsterblichen Liebe einen zu geben vermochte.
Sie reckte sich ihm mit aller Kraft entgegen. Sie legte ihr ganzes Sein in diesen verwegenen Sprung, ihn zu erreichen, und gab bis auf das heftige Verlangen, ihn zu erreichen, alles Streben auf.
Roberta schrie ihre namenlose Liebe heraus, schrie ihr Verlangen heraus, während sie nach seinen Fingern langte. Als er ihren Namen so voller Schönheit rief, daß sie zu vergehen drohte, breitete sie die Arme aus, um ihn endlich zu umschlingen. Es war, als schwebe sie ihm endlos durch die Luft entgegen, die Sonne im Gesicht, den Wind im Haar, doch es war gut so, denn jetzt war sie dort, wo sie sein wollte – bei ihm.
Einen vollkommeneren Augenblick hatte es in ihrem ganzen bisherigen Leben nicht gegeben, ein vollkommeneres Gefühl in ihrem ganzen Sein.
Sie vernahm die absolute Melodie dieser Gefühle, die zum Ruhm all dessen erklang.
Fast ging ihr das Herz über, als sie sich mit einem letzten verzweifelten Bemühen in seine Arme stürzte, ihr Verlangen herausschreiend, ihre Liebe, ihre Erfüllung, und nur noch einen Wunsch hatte, seinen Namen zu kennen, damit sie ihm alles von sich geben konnte.
Sein strahlendes Lächeln galt ihr und ihr allein. Seine Lippen waren für sie bestimmt und nur für sie. Sie schloß das letzte kleine Stück Distanz zu ihm, verging danach, endlich die Liebe ihres Lebens zu liebkosen, ihren Seelenverwandten, die einzig wahre Leidenschaft in ihrem Leben.
Endlich waren seine Lippen nah, sie sank in seine ausgestreckten Arme, in seine Umarmung, zu einem perfekten Kuß.
In diesem makellosen Augenblick, kurz bevor ihre Lippen sich berührten, als sie durch ihn hindurchblickte und unmittelbar hinter ihm den gnadenlosen Grund des Tales unerbittlich auf sich zurasen sah, wußte sie endlich seinen Namen.
Tod.
26
»Dort«, meinte Richard und beugte sich hinüber, damit Kahlan an seinem Arm entlang blicken konnte, während er auf einen fernen Punkt am Horizont zeigte. »Siehst du den tief dunklen Flecken auf der Wolke vor dem etwas helleren Teil?« Er wartete ab, bis sie nickte. »Unterhalb davon, und dann ein Stück weiter rechts.«
Kahlan, inmitten eines scheinbar endlosen Meeres aus beinahe hüfthohem Gras stehend, hielt sich die Hand an die Stirn, um ihre Augen gegen die morgendliche Helligkeit zu schützen.
»Ich kann ihn noch immer nicht erkennen.« Sie machte ihrer Unzufriedenheit mit einem Seufzer Luft. »Allerdings konnte ich weit entfernte Dinge noch nie so gut sehen wie du.«
»Ich sehe ihn auch nicht«, meinte Cara.
Richard sah nochmals über seine Schulter und ließ den Blick suchend über das umliegende menschenleere Grasland schweifen, um sich zu überzeugen, daß nicht plötzlich jemand angeschlichen kam und sie überraschte, während sie das Näherkommen dieses Mannes beobachteten. Er konnte nichts Bedrohliches entdecken.
»Noch nicht, aber gleich.«
Er langte hinüber, um sich zu vergewissern, daß sein Schwert fest in der Scheide steckte, doch erst als er merkte, daß sein Schwert nicht an seiner linken Hüfte hing, wurde ihm bewußt, was er tat. Stattdessen nahm er seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil ein.
Unzählige Male hatte er sich gewünscht, das Schwert der Wahrheit und die damit verbundene Magie los zu sein, da es in seinem Innern Gefühle auslöste, die er zutiefst verabscheute. Die Magie des Schwertes konnte mit diesen Empfindungen zu einem tödlichen Zorn verschmelzen. Als Zedd ihm damals das Schwert überreicht hatte, hatte er Richard erklärt, es sei nichts weiter als ein Werkzeug, Es hatte eine Weile gedauert, bis Richard Zedds Ratschlag schließlich verstanden hatte.
Nichtsdestoweniger war es ein beängstigendes Werkzeug, wenn man gezwungen war, sich seiner zu bedienen.
Wer dieses Schwert führte, dem oblag nicht nur die Kontrolle über die Waffe, sondern auch über sich selbst. Dies zu begreifen war unter anderem entscheidend, wenn man die Waffe ihrer Bestimmung gemäß benutzen wollte. Und bestimmt war diese Waffe ausschließlich für einen echten Sucher der Wahrheit.
Richard schauderte bei der Vorstellung, diese Erfindung der Magie könnte in die falschen Hände geraten. Er dankte den Guten Seelen, daß es, wenn er es schon nicht bei sich tragen konnte, wenigstens in Sicherheit war.
Unterdessen kam der Mann unter den fernen, sich hoch auftürmenden Wolken, deren Innenleben im morgendlichen Licht in tiefem Gelb bis hin zu beunruhigendem Violett erglühte – Farben, die auf die Heftigkeit des in ihnen verborgenen Unwetters hindeuteten –, immer näher. Im Innern des enormen Wolkengebirges zuckte und flackerte ein auf diese Entfernung lautloser Blitz und brachte verborgene Schluchten, Talwände und wallende Gipfel zum Aufleuchten. Verglichen mit anderen Orten, an denen er gewesen war, wirkten Himmel und Wolken über den flachen Ebenen unfaßbar grandios. Vermutlich, weil von einem Ende des Horizonts bis zum anderen nichts – kein Berg, kein Baum, überhaupt nichts – das Schauspiel auf der Bühne des Himmelsgewölbes störte.