Wie bei anderen Völkern der Midlands hatte Kahlan sich nicht nur mit der Sprache der Schlammenschen, sondern auch mit ihren Glaubensvorstellungen befaßt. In der Burg der Zauberer in Aydindril gab es Bücher über Sprache, Regierungsform, Glaubensvorstellungen, über Speisen, Kunst und Lebensgewohnheiten eines jeden Volkes der Midlands.
Sie wußte, daß die Schlammenschen in mehreren leerstehenden Gebäuden am Nordrand des Dorfes oft aus Reiskuchen und Blumensträußen bestehende Opfergaben vor kleinen Tonfiguren niederlegten. Diese Gebäude waren ausschließlich der Nutzung durch jene bösen Seelen vorbehalten, die diese Tonfiguren darstellten.
War der Zorn der bösen Seelen erregt worden, was gelegentlich vorkam, und hatten diese ein Leben gefordert, dann, so glaubten die Schlammenschen, wanderte die Seele des Getöteten in die Unterwelt, wo sie sich zu den guten Seelen gesellte, die über die Schlammenschen wachten, und trug auf diese Weise dazu bei, die böswilligen Seelen in Schach zu halten. Auf diese Weise wuchs das Gleichgewicht zwischen den Welten stets an, daher waren sie davon überzeugt, das Böse beschränke sich ganz von alleine.
Obwohl es erst früher Nachmittag war, schien es dem Empfinden nach bereits zu dämmern, als Kahlan, Richard und Cara sich ihren Weg durchs Dorf bahnten. Düstere Wolken schienen sich unmittelbar über den Dächern zusammenzuballen. Immer näher schlugen die Blitze ein, deren Helligkeit die hohen Wände der Häuser in ein gleißendes Licht tauchte. Fast unmittelbar darauf folgte stets ein schmerzhaft harter Donnerschlag, der den Erdboden erzittern ließ.
Der böige Wind peitschte Kahlan dicke Regentropfen gegen den Hinterkopf. In gewisser Weise war sie froh über den Regen, weil er die Feuer löschen würde. Es gehörte sich nicht, Freudenfeuer brennen zu lassen, wenn jemand gestorben war. Der Regen würde irgend jemandem die unangenehme Aufgabe ersparen, die Glut der Freudenfeuer auszutreten.
Richard hatte Juni aus Gründen des Respekts den gesamten Rückweg getragen. Die Jäger verstanden dies; Juni war gestorben, während er zu Richards und Kahlans Schutz Wache gestanden hatte.
Cara jedoch war schnell zu einem anderen Schluß gekommen: Juni hatte sich vom Beschützer zur Bedrohung gewandelt. Das Wie und Warum spielte dabei keine Rolle – nur daß er sich gewandelt hatte. Sie hatte die feste Absicht, vorbereitet zu sein, sollte sich einer von ihnen das nächste Mal in eine drohende Gefahr verwandeln.
Richard war mit ihr deswegen kurz aneinandergeraten. Die Jäger hatten ihre Worte nicht verstanden, hatten aber die Hitzigkeit richtig gedeutet und gar nicht erst um eine Übersetzung gebeten.
Schließlich hatte Richard das Thema fallenlassen. Wahrscheinlich fühlte Cara sich einfach nur schuldig, weil sie Juni hatte passieren lassen. Kahlan ergriff Richards Hand, sie gingen hinterher und ließen Cara ihren Willen, Weg und Tempo zu bestimmen. In einem Dorf voller Freunde hielt sie nach lauernden Gefahren Ausschau und geleitete sie auf dem Weg zu Zedd und Ann erst in den einen, dann in den anderen Durchgang.
Kahlan war überzeugt, daß Cara sich täuschte, trotzdem empfand sie eine unerklärliche Unruhe. Sie bekam mit, wie Richard sich kurz umsah, mit einem suchenden Blick, der ihr verriet, daß auch er die Anspannung spürte.
»Was ist denn?« erkundigte sie sich leise.
Richards Blick wanderte suchend durch den gesamten Durchgang. Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Meine Nackenhaare sträuben sich, als würde ich beobachtet, aber da ist niemand.«
Sie war zwar beunruhigt, vermochte aber nicht zu sagen, ob tatsächlich böswillige Augen sie beobachteten oder ob es nur an seiner Vermutung lag, daß sie ständig über ihre Schulter blickte. Sich die eiskalte Gänsehaut reibend, die ihre Arme kribbelnd überzog, eilte sie durch die düsteren Gassen zwischen den massigen Gebäuden.
Es fing gerade ernsthaft an zu regnen, als Cara am gesuchten Ort anlangte. Den Strafer griffbereit, blickte sie prüfend nach beiden Seiten in den schmalen Durchgang, bevor sie die einfache Holztür öffnete und als erste ins Haus schlüpfte.
Der Wind wehte Kahlan das Haar ins Gesicht. Blitze zuckten, Donner krachte. Wohl verängstigt durch das Gewitter, schoß eines der im Durchgang umherstreifenden Hühner zwischen ihren Beinen hindurch und huschte vor ihnen ins Haus.
Im kleinen Kamin in der Ecke des bescheidenen Raumes brannte ein niedriges Feuer, mehrere dicke Talgkerzen standen auf einem in den Mauerputz eingelassenen Holzbord neben der kuppelartig überwölbten Feuerstelle; unter dem Holzbord gab es einen Stapel aus kleinen Feuerholzscheiten und gebündeltem Gras. Ein Rehbockfell auf dem Lehmfußboden vor der Feuerstelle bot die einzige offizielle Sitzgelegenheit. Vor dem glaslosen Fenster hing ein Tuch, das von den heftigeren Windstößen zurückgeschlagen wurde und die Kerzen flackern ließ.
Richard stemmte die Tür mit der Schulter zu und verriegelte sie gegen das Wetter. Der Raum roch nach Kerzen und dem süßlichen Duft des gebündelten Grases, das in der Feuerstelle verbrannte, aber auch nach dem beißenden Rauch, der durch die Dachöffnung über dem Kamin nicht abziehen konnte.
»Sie sind bestimmt in den hinteren Zimmern«, meinte Cara, mit ihrem Strafer auf ein schweres Fell deutend, das vor einer Türöffnung hing.
Das zufrieden gackernde Huhn, dessen Kopf von einer Seite zur anderen zuckte, stolzierte im Raum umher und umkreiste das mit dem Finger oder vielleicht mit einem Stock in den Lehmboden gezeichnete Symbol.
Von klein auf hatte Kahlan gesehen, wie Zauberer und Hexenmeisterinnen das uralte, den Schöpfer, das Leben, den Tod, die Gabe und die Unterwelt darstellende Symbol gezeichnet hatten. Sie zeichneten es in Zeiten der Muße und in Zeiten der Angst; sie zeichneten es, um Trost zu finden – und um sich ihres Verbundenseins mit allen und jedem zu erinnern, Und sie zeichneten es, um Magie heraufzubeschwören.
Für Kahlan war es das ermutigende Zauberzeichen ihrer Kindheit, einer Zeit, als die Zauberer Spiele mit ihr spielten, sie kitzelten oder durch die Korridore der Burg der Zauberer jagten, während sie vor Vergnügen quiekte. Manchmal erzählten sie ihr Geschichten, bei denen ihr vor Staunen der Atem stockte, während sie sicher und geborgen auf ihrem Schoß saß.
Vor dem Beginn ihrer harten Ausbildung hatte es eine Zeit gegeben, als sie noch Kind sein durfte. Mittlerweile waren alle diese Zauberer tot; bis auf einen hatten alle ihr Leben geopfert, um sie in ihrem Bemühen zu unterstützen, die Grenze zu überqueren und Hilfe für den Kampf gegen Darken Rahl zu finden. Dieser eine hatte sie verraten. Es hatte jedoch eine Zeit gegeben, als sie ihre Freunde waren, ihre Spielgefährten, ihre Onkel, ihre Lehrer, diejenigen, auf die sie ihre ganze Verehrung und Liebe richtete.
»Das habe ich schon mal irgendwo gesehen«, meinte Cara, nachdem sie die Zeichnung auf dem Boden kurz aufmerksam betrachtet hatte. »Darken Rahl hat es manchmal gezeichnet.«
»Man nennt es eine Huldigung«, erläuterte Kahlan.
Der Wind hob das Rechteck aus derbem Tuch vor dem Fenster an, und das grelle Gleißen eines Blitzes fiel auf die auf den Erdboden gezeichnete Huldigung.
Richard öffnete den Mund, zögerte dann aber und behielt seine Frage für sich. Er betrachtete das Huhn, das neben dem in die hinteren Räume führenden Fellvorhang auf dem Boden herumpickte.
Er gestikulierte. »Cara, öffnet bitte die Tür.«
Sie riß sie auf, und Richard versuchte, das Tier mit den Armen fuchtelnd hinauszuscheuchen. Das Huhn wollte ausweichen, schoß flügelschlagend und mit fliegenden Federn mal hier-, mal dorthin und weigerte sich, das Zimmer bis zur offenen Tür zu durchqueren und sich in Sicherheit zu bringen.
Richard, die Hände in den Hüften, hielt inne und blickte verwundert auf das Huhn hinab; schwarze Musterungen im weißbraunen Gefieder verliehen ihm einen verwirrenden Streifeneffekt. Das Huhn protestierte lauthals, als Richard sich behutsam in Bewegung setzte und den verwirrten Vogel mit angedeuteten Fußtritten durch das Zimmer scheuchte.
Als es die Zeichnung auf dem Fußboden erreichte, stieß es einen Schrei aus, schlug in neuerlich erwachter Panik mit den Flügeln, brach seitlich aus und rannte an der Zimmerwand entlang und schließlich zur Tür hinaus. Es war die erstaunliche Darbietung eines Tieres, das zu verängstigt war, auf geradem Weg zu einer weit offen stehenden Tür zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen.