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Willi Meinck

Die seltsamen Abenteuer des MARCO POLO

«Die Stadt Venedig liegt am Ende

des Meerbusens des Adriatischen

Meeres und beißt die Königin der

anderen Städte, sie hat das Meer

zur Mauer und den Himmel zum

Dacbe.»

GIOVANNI FRANCESCO STRAPAROLA
geboren: Ende des 15. Jahrhunderts

GIOVANNI SINGT

DER SOMMER DES JAHRES 1268 WAR HEISS, UND der Wind, der vom Meere kam und sacht über die Lagune wehte, brachte wenig Kühlung. Das Wasser rings um die Insel Murano fing die Farben des Himmels und spiegelte sie wider. Giovanni, der dreizehnjährige Sohn des Steinbauers Ernesto, saß auf den Stufen der verfallenen römischen Villa und sah dem Schiffe nach, das, kaum merkbar, mit schlaffen grauen Segeln dem Hafen von San Nicolo zuglitt.

Die Villa mit den steinernen Stufen und den Säulen aus Marmor hatte vor Jahrhunderten ein reicher Römer bauen lassen. Sie war ein letzter Zeuge der kalten Pracht des römischen Imperiums, das einst eine Welt beherrschte, die von der Nordküste des schwarzen Erdteils bis nach Kleinasien reichte. Bald würden die Lastträger und Steinbauer kommen, um den kostbaren Marmor und die Ziegel für neue Bauten an den Flüssen und Kanälen von Venedig zu bergen.

Giovanni stand auf. Er legte sich in den Schatten des nahen Feigenbaumes und hörte, wie die Vögel sangen. In solchen Minuten träumte er und vergaß den geheimen Schmerz über seine bucklige Gestalt. Er glaubte, das Meer am Strande des Lido rauschen zu hören; der Himmel und die weite unbewegte Lagune waren von einem feinen Klingen erfüllt, das nur Giovannis Ohr vernahm. Die Schreie der Maultiertreiber störten ihn nicht.

An Giovanni hatte die Natur ein kleines Wunder vollbracht. Er hatte schwarze Haare und helle blaue Augen, in denen Schmerz und Sehnsucht schimmerten. Aber das Schönste war seine Stimme. Die lauten Gespräche der Schiffer und Glasmacher, der Lastfräger und Arsenalarbeiter, der Seiler und Schiffsbauer, die demütigen, zudringlichen Bitten der Bettler verstummten, wenn Giovanni sang. Dann blieben die Bauern und Maultiertreiber, die gerade in der Nähe waren, stehen und lauschten, dann war es, als wehe der Wind sanfter über die Lagune.

Aber Giovanni, der alles Schöne liebte, war oft traurig. Besonders wenn er Giannina, die Nachbarstochter, sah.

Da lag nun Giovanni im Gras und wußte nicht, ob er froh oder traurig sein sollte. Er summte für sich ein Lied, das er oft im Weinhaus «La Malvagia» gehört hatte:

«O Theresina! Die Mutter fragt dich! Was fragt die Mutter, o Theresina? Sie will dir einen Schloßherrn geben, der dir jeden Tag Krebse schenkt. Aber du willst ihn nicht, Theresina, willst nicht jeden Tag Krebse essen…»

Die flachen, breiten Fischerboote ruhten auf dem Lagunensee. Von San Michele nahte ein Ruderboot; der Junge im Bug zeigte auf die Marmorsäulen der Villa. Mit kräftigen Schlägen steuerte der Mann auf der Ruderbank darauf zu. Giovannis Freund Marco Polo kam. «He, Giovanni!» rief er über das Wasser, «bist du da, Giovanni?»

Giovanni lächelte und preßte seinen Körper an die Erde. Marco sprang vom Kahn auf die Steinstufen und sagte, nach allen Seiten spähend, zum Diener: «Hol mich nachmittags ab, Paolo; aber zu keinem ein Wort, hörst du? Die Mutter darf nichts erfahren.» «Ja, Herr!»

Der Ruderer entfernte sich. «Giovanni, wo bist du denn?»

Da konnte der Freund nicht länger schweigen. «Hier bin ich, Marco!» Sie begrüßten sich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Dabei besuchte ihn Marco jede Woche. Eigentlich sollte er an diesem Tage zum Bruder Lorenzo gehen, der ihn in der Religion, im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtete. Aber einmal mußte er doch nach Murano, zu Giovanni und Giannina!

Sie hatten sich vor zwei Jahren auf dem Fest der Fischer kennengelernt. Giovanni hatte ein altes italienisches Volkslied gesungen, und Marco, der Sohn eines vornehmen Patriziers und Kaufmanns, erhielt von seiner Mutter die Einwilligung, den Jungen mit der herrlichen Stimme in ihr Haus einzuladen.

So hatte die Freundschaft zwischen Marco und Giovanni, dem Sohn des Steinbauers Ernesto, begonnen. Marcos Mutter war mit dem häufigen Zusammensein der Freunde nicht recht einverstanden. Aber ihre Sorge um den Gatten, der vor dreizehn Jahren mit seinem Bruder Maffio Polo auf eine weite, abenteuerliche Reise gegangen war und seitdem kein Lebenszeichen gegeben hatte, machte sie müde und teilnahmslos. Sie ließ es an der strengen Aufsicht fehlen, und Marco fand öfter Gelegenheit, Giovanni und Giannina aufzusuchen. Paolo, ein Diener des Hauses, half ihm dabei.

Marco war größer als Giovanni und von schöner Gestalt. Seine Stirn verriet Abenteuerlust; wenn er erregt war, funkelten die Augen, und sein Kinn schob sich angriffslustig vor. Zuweilen war er hochfahrend und wollte seinen Willen durchsetzen, auch wenn das, was er vorhatte, unvernünftig war. Er ließ nicht gern von einem Unternehmen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Doch wenn er bei Giovanni war, bezähmte er seinen eigenwilligen Sinn und hörte auf das, was der Freund ihm sagte.

Giovanni und Marco standen eine Weile nebeneinander und schauten auf das Wasser, das jetzt unter der Berührung einer leichten Brise wie ein lebendiges Wesen atmete.

«Ich war auf der Piazzetta, bevor ich zu dir kam», sagte Marco, «und habe einem Geschichtenerzähler zugehört. Er war zerlumpt wie ein Bettler und barfüßig. Aber erzählen konnte er wie ein König.»

Giovanni sah an sich herunter. Barfüßig war der Geschichtenerzähler auf der Piazzetta gewesen? Er blickte auf den Freund, der Kleider aus feinem florentinischen Tuch und teure Schnallenschuhe trug, dann sah er wieder an sich herunter. Ein Hemd trug er und eine derbe Hose. Und barfüßig war er wie der Geschichtenerzähler auf der Piazzetta!

«Was ist denn, Giovanni?» fragte Marco, der die hellen Augen des Freundes auf sich gerichtet sah.

«Nichts», antwortete Giovanni. «Die Blumen blühen. Sieh! Gelbe und rote und weiße. Und draußen das Schiff, nur die Masten siehst du noch!»

«Es fährt nach Byzanz. Ganz sicher fährt es nach Byzanz», sagte Marco versonnen. Der Name dieser Stadt, der Hauptstadt des Oströmischen Kaiserreiches, übte einen eigentümlichen Reiz auf ihn aus. Byzanz war das Tor zu der märchenhaften Welt des Ostens, in der die mächtigen Mongolenkaiser herrschten. Nach Byzanz war Nicolo Polo, der Vater, und Maffio Polo, der Onkel, im Jahre 1250 gereist und fünf Jahre später, wie ein Freund des Hauses berichtete, zu einer abenteuerlichen Fahrt nach dem Mongolenreich aufgebrochen. Wenn der Name dieser Stadt genannt wurde, senkte die Mutter den Kopf, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen.

Marco liebte seine Mutter mit scheuer Verehrung. Sie war für ihn die schönste Frau von Venedig. Einmal hatte er zu ihr davon gesprochen, mit einem Schiff aufs Meer hinauszufahren, nach Byzanz, dann weiter nach Osten, um nach dem Vater und dem Onkel zu forschen und die geheimnisvollen Länder kennenzulernen, aus denen Seide und Edelsteine, farbenprächtige Teppiche und teure Gewürze und viele andere Waren nach Venedig gebracht wurden. Aber die Mutter war zornig geworden und hatte ihm befohlen, drei Tage das Haus nicht zu verlassen. Maria, die Magd, sagte ihm, daß die Mutter den ganzen Tag geweint hätte. Marco hatte seitdem nicht mehr von seinen abenteuerlichen Gedanken zu ihr gesprochen.

Aber wenn er bei Giovanni war, konnte er von seiner Sehnsucht nach den fernen Ländern reden. Wie war es auch möglich, in Venedig zu leben, in dieser Lagunenstadt, wo sich Kaufleute und Seefahrer aus allen Herren Länder trafen, ohne von diesem Drang nach weiten Reisen und einträglichen Geschäften ergriffen zu werden? «Woran denkst du wieder?» fragte Giovanni den Freund. «An das, was ich auf der Piazzetta gehört habe. Ich werde es dir später erzählen. Eine Geschichte von einem Diamanten, der so groß wie ein Taubenei ist. Komm, Giovanni, gehen wir zum Fischteich des Messer Celsi.» Die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Ein Senator, von den beiden Jungen ehrerbietig gegrüßt, sprengte auf seinem Rappen vorüber.