Trotz der vielen Veränderungen hatte sich jedoch die Grundstruktur der Stadt nicht gewandelt. Gebäude tauchten auf und verschwanden, aber das Netz der Straßen schien ewig, und auch der Park blieb das grüne Herz der Stadt. Alvin fragte sich, wie weit der Monitor zurückgehen konnte. Würde er zur Gründung der Stadt zurückkehren und jenen Schleier durchdringen können, der die bekannte Geschichte von den Mythen und Legenden der Frühzeit schied?
Schon waren sie fünfhundert Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückgegangen. Außerhalb der Mauern Diaspars, jenseits des Bereiches der Monitoren, würde eine andere Erde liegen. Vielleicht gab es noch Meere und Wälder, vielleicht sogar noch andere Städte, die der Mensch auf dem langen Rückzug zu seiner letzten Heimat noch nicht verlassen hatte.
Die Minuten vergingen, jede ein Zeitalter im kleinen All der Monitoren.
Bald mußte die früheste dieser gespeicherten Erinnerungen erreicht und der Rücklauf zu Ende sein. Aber so faszinierend dieser Vorgang auch war, Alvin sah keinen Weg, wie er ihm die Flucht aus der Stadt erleichtern könnte.
Mit einer plötzlichen, geräuschlosen Implosion schrumpfte Diaspar zu einem Bruchteil der früheren Größe zusammen. Der Park verschwand; die Grenzwälle miteinander verbundener, titanischer Türme lösten sich auf.
Diese Stadt war zur Welt hin offen, denn die strahlenförmig verlaufenden Straßen erstreckten sich ohne Hindernisse bis zu den Grenzen des Monitorsehbereiches. Hier lag Diaspar, wie es ausgesehen hatte, ehe die große Veränderung über die Menschheit kam.
„Wir können nicht weiter zurück“, sagte Khedron und deutete auf den Monitorschirm, auf dem die Worte: ›Rücklauf beendet‹ leuchteten. „Das muß die früheste Version der Stadt sein, die in den Gedächtniseinheiten aufbewahrt wird. Ich bezweifle, daß man in der Zeit vorher die Ewigkeitsanlagen verwendet hat; wahrscheinlich ließ man die Gebäude sich auf natürliche Weise abnützen.“
Lange Zeit starrte Alvin auf dieses Modell der alten Stadt. Er dachte an den Verkehr, den diese Straßen bewältigt hatten, als die Menschen alle Ecken der Welt aufsuchten — und andere Welten. Diese Menschen waren seine Vorfahren; er fühlte sich mit ihnen enger verbunden als mit den Leuten in diesem Leben. Er wünschte, sie sehen und ihre Gedanken teilen zu können. Aber diese Gedanken konnten nicht glücklich gewesen sein, denn sie mußten unter dem Schatten der Invasoren leben. Wenige Jahrhunderte später schon würden sie sich von ihrem Raum abwenden und eine Mauer gegen das Universum errichten.
Khedron ließ den Monitor ein dutzendmal vorwärts und rückwärts durch diese kurze Geschichtsperiode vor der großen Verwandlung laufen. Der Wechsel von der kleinen, offenen Stadt zu einem viel größeren, abgeschlossenen Gebilde hatte wenig mehr als tausend Jahre in Anspruch genommen.
Innerhalb dieser Zeit mußten die Maschinen, die Diaspar treu gedient hatten, entworfen und gebaut und das Wissen, das ihnen erst die Durchführung ihrer Aufgabe ermöglichte, in ihre Gedächtnisanlagen gelegt worden sein. Die Gedächtniseinheiten mußten auch die grundlegenden Strukturen aller jetzt lebenden Menschen empfangen haben.
Alvin begriff, daß auch er in irgendeiner Hinsicht in der alten Welt existiert haben mußte.
Als die neue Stadt geschaffen wurde, war vom alten Diaspar sehr wenig übriggeblieben; der Park hatte es fast völlig beseitigt. Schon vor der Umwandlung hatte es eine kleine, grasbedeckte Lichtung in der Mitte Diaspars gegeben, die den Treffpunkt aller Straßen umgab. Später vergrößerte sie sich um das Zehnfache, verdrängte Häuser und Straßen. Zu dieser Zeit war das Grabmal Yarlan Zeys entstanden; es nahm den Platz eines niedrigen, runden Gebäudes ein, das früher am Treffpunkt aller Straßen gestanden hatte. Alvin hatte nie so recht an die Geschichten von der Ehrwürdigkeit des Grabmals glauben wollen, aber sie schienen sich zu bestätigen.
„Ich nehme an“, sagte Alvin plötzlich, „daß wir dieses Abbild ebenso durchforschen können wie vorher das heutige Diaspar.“
Khedrons Finger flogen über die Tasten des Monitors, und der Bildschirm beantwortete Alvins Frage. Die längst vergangene Stadt weitete sich vor seinen Augen, als der Blick über die seltsam engen Straßen glitt.
Diese Erinnerung an ein vergessenes Diaspar war ebenso scharf und klar wie das Bild der Stadt, in der er heute lebte. Seit tausend Millionen Jahren hatten sie die Maschinen in geisterhafter Bereitschaft gehalten, auf den Augenblick wartend, an dem sie wieder jemand zu sehen wünschte. Und es war nicht nur eine Erinnerung, dachte Alvin, was er jetzt sah. Es war viel komplizierter — es war die Erinnerung einer Erinnerung…
Er wußte nicht, was er daraus lernen konnte und ob ihm das bei seinen Nachforschungen nützte. Gleichgültig; es war faszinierend, in die Vergangenheit zu schauen und eine Welt zu sehen, die in den Tagen existiert hatte, als die Menschen noch zwischen den Sternen flogen. Er deutete auf das niedrige, runde Gebäude im Mittelpunkt der Stadt. „Wir wollen hier anfangen“, sagte er zu Khedron. „Diese Stelle scheint mir ebensogut wie irgendeine andere.“
Vielleicht war es reines Glück, vielleicht eine alte Erinnerung, vielleicht elementare Logik. Eigentlich war es unwesentlich, denn er hatte früher oder später diese Stelle erreicht, an der sich alle Straßen der Stadt trafen.
Er brauchte zehn Minuten zu der Entdeckung, daß sie sich hier nicht aus Gründen der Symmetrie trafen — zehn Minuten, um zu wissen, daß seine lange Suche nicht umsonst gewesen war.
9
Es fiel Alystra nicht schwer, Alvin und Khedron unerkannt zu folgen. Sie schienen es sehr eilig zu haben — was an sich schon sehr ungewöhnlich war — und sahen sich nie um. Es war ein vergnügliches Spiel gewesen, sie die fließenden Straßen entlang zu verfolgen, sich in der Menge zu verbergen, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Gegen das Ende der Fahrt zu war ihr Ziel deutlich geworden; als sie das Straßennetz verließen und den Park aufsuchten, konnten sie nur zum Grabmal Yarlan Zeys gehen. Im Park befanden sich keine anderen Gebäude, und Personen, die so eilig dahinschritten wie Alvin und Khedron, waren nicht am Anblick der Landschaft interessiert.
Da sie sich auf den letzten paar hundert Metern nirgends verbergen konnte, wartete Alystra, bis Khedron und Alvin in der düsteren Marmorhalle verschwunden waren. Dann eilte sie ihnen über die grasbedeckte Anhöhe nach. Sie war ziemlich sicher, daß sie sich hinter einer der großen Säulen lange genug verstecken konnte, um herauszubringen, was die beiden vorhatten; es spielte keine Rolle, wenn sie nachher entdeckt wurde.
Das Grabmal bestand aus zwei konzentrischen Säulenringen, die einen runden Hof einschlossen. Von einem Teilstück abgesehen, deckten die Säulen das Innere völlig ab, und Alystra vermied es, durch diese Lücke einzutreten; sie kam statt dessen an der Seite herein. Vorsichtig umging sie den ersten Säulenring, sah, daß sich hier niemand aufhielt, und ging auf Zehenspitzen zum zweiten Ring. Durch die Lücken konnte sie Yarlan Zey durch den Eingang und über den Park, den er geschaffen hatte, auf die Stadt blicken sehen, die er so lange Zeit bewacht hatte.
Sonst befand sich niemand in dieser marmornen Einsamkeit. Das Grabmal war leer.
In diesem Augenblick befanden sich Alvin und Khedron dreißig Meter unter dem Boden, in einem kleinen, schachtelartigen Raum, dessen Wände ständig nach oben zu gleiten schienen. Das war das einzige Zeichen der Bewegung; es gab nicht die geringste Spur eines Vibrierens, um ihnen anzuzeigen, daß sie schnell in die Erde hinabsanken, einem Ziel zu, das selbst jetzt noch keiner von beiden ganz begriff.
Es war absurd leicht gewesen, denn der Weg war für sie vorbereitet. Von wem? dachte Alvin. Vom Zentral-Elektronengehirn? Oder von Yarlan Zey selbst, als er die Stadt verwandelte? Der Monitorschirm hatte ihnen den langen, senkrechten Schacht in die Tiefe gezeigt, aber sie waren ihm nur eine kurze Strecke gefolgt, als das Bild ausblendete. Das bedeutete, daß sie um Informationen nachsuchten, die der Monitor nicht besaß und vielleicht nie besessen hatte.