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Alvin hatte diesen Gedanken kaum formuliert, als der Bildschirm wieder aufleuchtete. Eine kurze Mitteilung erschien, gedruckt in der vereinfachten Schrift, wie sie von den Maschinen zur Verständigung mit den Menschen verwendet wurde. ›Steh dort, wohin der Blick der Statue fällt — und denk daran: Diaspar war nicht immer so.‹

Die letzten fünf Worte erschienen in größerer Schrift, und die Bedeutung dieser Mitteilung wurde Alvin sofort klar. Gedanklich formulierte Worte oder Sätze waren seit uralter Zeit dazu benützt worden, Türen zu öffnen oder Maschinen in Tätigkeit zu setzen. Und ›Steh dort, wohin der Blick der Statue fällt‹ — nun, das war wirklich zu einfach.

„Ich möchte wissen, wie viele Menschen diese Mitteilung gelesen haben?“ sagte Alvin gedankenvoll.

„Vierzehn, meines Wissens“, erwiderte Khedron. „Und es mögen noch mehr gewesen sein.“ Er erklärte diese rätselhafte Bemerkung nicht weiter, und Alvin hatte es zu eilig, den Park zu erreichen, um ihn zu fragen, was er damit meinte.

Sie wußten nicht, ob die Maschinen noch auf den auslösenden Impuls ansprachen. Als sie das Grabmal erreicht hatten, brauchten sie nur einen Augenblick, um den betreffenden Steinblock im Boden herauszufinden, auf den Yarlan Zeys Blick gerichtet war. Die Statue schien nur auf den ersten Blick über die Stadt hinauszublicken; wenn man unmittelbar vor ihr stand, konnte man erkennen, daß ihre Augen nach unten gerichtet waren, und ihr Blick auf einen Punkt innerhalb des Grabmals fiel. Alvin ging zum nächsten Steinblock und stellte fest, daß ihn Yarlan Zey dort nicht mehr ansah.

Er ging wieder zu Khedron zurück und dachte jene Worte, die der Spaßmacher laut aussprach: ›Diaspar war nicht immer so. ‹ Augenblicklich, als hätten die Millionen Jahre seit dem letzten Mal nicht existiert, reagierten die wartenden Maschinen. Der große Steinblock, auf dem sie standen, trug sie sanft in die Tiefe.

Über ihnen verschwand plötzlich der blaue Fleck des Himmels. Der Schacht war wieder verschlossen; es bestand keine Gefahr, daß jemand versehentlich hineinfiel. Alvin fragte sich, ob irgendwie ein anderer Steinblock materialisiert war, um jenen zu ersetzen, der ihn und Khedron trug, entschied sich dann aber dagegen. Der ursprüngliche Block lag wahrscheinlich immer noch oben; derjenige, auf dem sie standen, existierte vielleicht jeweils nur für unendlich kleine Bruchteile einer Sekunde, wurde immer wieder in größerer Tiefe neu geschaffen und vermittelte die Illusion ständig hinabgleitender Bewegung.

Keiner von beiden sprach, als die Wände stumm an ihnen vorbei in die Höhe glitten. Khedron rang wieder einmal mit seinem Gewissen; er fragte sich, ob er diesmal nicht zu weit gegangen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wo dieser Weg hinführte, wenn er überhaupt ein Ziel hatte.

Zum erstenmal in seinem Leben begann er zu begreifen, was Furcht war.

Alvin hatte keine Angst; dazu war er zu aufgeregt. Er empfand dasselbe Gefühl, wie im Turm von Loranne, wenn er über die Wüste hinausgesehen und die Sterne am Himmel angestarrt hatte. Damals blickte er nur auf das Unbekannte; jetzt wurde er ihm entgegengetragen.

Die Wände standen still. An einer Seite ihrer geheimnisvollen Kammer erschien ein Licht, wurde heller und dann zu einer Tür. Sie traten hindurch, gingen ein paar Schritte einen Korridor entlang und standen in einer großen, runden Höhle, deren Wände sich in schwingendem Bogen hoch über ihren Köpfen trafen.

Die Säule, in deren Innern sie heruntergekommen waren, schien viel zu schwach, um die Millionen Tonnen Gestein darüber tragen zu können; sie schien überhaupt nicht ursprünglicher Bestandteil der Höhle, sondern erst später hinzugekommen zu sein. Khedron, der Alvins Blick folgte, gelangte zur gleichen Schlußfolgerung.

„Diese Säule“, sagte er, etwas verkrampft, als sei er froh, irgend etwas zu reden, „wurde nur gebaut, um den Schacht aufzunehmen, in dem wir heruntergekommen sind. Er konnte nie den Verkehr bewältigt haben, der sich hierher ergossen haben muß, als Diaspar der Welt noch offenstand.

Dieser Verkehr kam durch die Tunnels da drüben; ich nehme an, du erkennst ihren Sinn?“

Alvin sah zu der mehr als hundert Meter entfernten Wand hinüber. In regelmäßigen Abständen wurde sie von Tunnels durchbrochen — zwölf Öffnungen, die sich in alle Richtungen erstreckten, wie die fließenden Straßen der Jetztzeit. Er sah, daß sie leicht anstiegen, und jetzt erkannte er auch die vertrauten grauen Flächen der fließenden Straßen. Das waren nur die abgetrennten Stümpfe der großen Wegverbindungen; das seltsame Material, das ihnen Leben gab, war jetzt unbeweglich erstarrt.

Beim Bau des Parks hatte man den Angelpunkt des Fließstraßensystems begraben. Aber man hatte ihn nicht zerstört.

Alvin ging auf einen der in die Wände gebohrten Stollen zu. Nach wenigen Schritten bemerkte er, daß sich der Boden unter seinen Füßen veränderte. Er wurde durchsichtig. Einige Schritte weiter schien er ohne sichtbaren Halt mitten in der Luft zu schweben. Er blieb stehen und starrte in die Leere hinunter.

„Khedron!“ rief er. „Kommen Sie und sehen Sie sich das an!“

Der Spaßmacher gesellte sich zu ihm; gemeinsam schauten sie auf das Wunder zu ihren Füßen. Verschwommen sichtbar, in unbestimmbarer Tiefe, lag eine riesige Landkarte — ein großes Netz aus Linien, die in einem Punkt unter dem Schacht zusammenliefen. Sie starrten es eine Weile schweigend an; dann sagte Khedron ruhig: „Ist dir klar, was das bedeutet?“

„Ich glaube schon“, erwiderte Alvin. „Das ist eine Karte des gesamten Transportsystems, und diese kleinen Kreise bezeichneten die anderen Städte der Erde. Neben den Kreisen stehen Namen, aber sie sind zu weit entfernt, als daß ich sie lesen könnte.“

„Es muß irgendeine Innenbeleuchtung gegeben haben“, sagte Khedron abwesend. Er verfolgte die Linien der Karte mit seinen Augen bis zu den Höhlenwänden.

„Ich hab' es mir gedacht!“ rief er plötzlich. „Siehst du, wie diese strahlenförmigen Linien zu den kleinen Stollen führen?“

Alvin war aufgefallen, daß neben den großen Bögen der Fließstraßen unzählige kleinere Tunnels aus der Höhle hinausführten Tunnels, die nach unten führten.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Khedron fort: „Man kann sich kaum etwas Einfacheres vorstellen. Die Leute, die von den fließenden Straßen herunterkamen, wählten den Ort aus, den sie besuchen wollten, indem sie einfach der entsprechenden Linie auf dieser Karte folgten.“

„Und was geschah dann?“ fragte Alvin.

Khedron schwieg; er starrte auf die geheimnisvollen Tunnels, dreißig oder vierzig Öffnungen, die einander völlig glichen. Nur die Namen auf der Karte hätten es ermöglicht, zwischen ihnen zu unterscheiden; aber diese Namen waren nicht mehr zu entziffern.

Alvin hatte sich entfernt und war hinter die Mittelsäule getreten. Dann ertönte seine Stimme; etwas gedämpft und von den Wänden der Untergrundkammer widerhallend.

„Was ist?“ rief Khedron, der seinen Platz nicht verlassen wollte, weil es ihm beinahe gelungen war, eine der schwach erleuchteten Buchstabengruppen zu entziffern. Aber Alvins Stimme klang dringend; er ging hinüber.

Tief unter ihnen lag die andere Hälfte der großen Landkarte. Hier jedoch war nicht alles unleserlich; eine der Linien — eine einzige — war strahlend hell erleuchtet. Sie schien mit dem übrigen System keine Verbindung zu haben und führte wie ein schimmernder Pfeil zu einem der nach unten führenden Tunnels. Kurz vor dem Tunneleingang umschloß die Linie einen goldenen Lichtkreis, und neben diesem Kreis stand das einzige Wort ›Lys‹; das war alles.

Lange starrten Alvin und Khedron auf dieses stumme Zeichen. Für Khedron war es eine Herausforderung, die er, wie er wohl wußte, niemals annehmen konnte — und deren Existenz er am liebsten überhaupt nicht zugegeben hätte. Aber für Alvin deutete sie die Erfüllung seiner Träume an. Das Blut pochte in seinen Adern, und seine Wangen waren wie vom Fieber gerötet. Er sah sich in der großen Höhle um, versuchte sich vorzustellen, wie sie in den alten Tagen ausgesehen haben mochte, als zwar die Luftfahrt zu Ende gegangen war, die Städte der Erde aber noch miteinander in Verbindung standen. Er dachte an die unzähligen Millionen Jahre, in denen der Verkehr immer mehr abnahm und die Lichter auf der Karte nacheinander starben, bis schließlich nur noch diese einzige Linie übrigblieb. Wie lange hatte sie wohl unter ihren verdunkelten Genossen geleuchtet, wie lange darauf gewartet, die Schritte zu lenken, die niemals kamen, bis Yarlan Zey die Fließstraßen versiegelte und Diaspar gegen die Welt abschloß.