Er stieß ganz plötzlich und unerwartet auf den See. Die Bäume zu seiner Rechten hörten plötzlich auf, und vor ihm lag eine weite Wasserfläche mit winzigen Inseln. Noch nie in seinem Leben hatte Alvin soviel Wasser gesehen; im Vergleich dazu waren selbst die größten Becken in Diaspar nur Pfützen. Er ging langsam zum Seeufer hinunter und schöpfte mit den Händen das warme Wasser, ließ es durch die Finger rinnen.
Der große silberne Fisch, der plötzlich zwischen den Wasserpflanzen am Seegrund dahinglitt, war das erste nichtmenschliche Wesen, das Alvin jemals gesehen hatte. Eigentlich mußte es ihm völlig fremd sein, aber seine Form weckte eine verschwommene Erinnerung in ihm. Wie es in der blaßgrünen Leere schwebte, seine Flossen ein schwacher Nebel der Bewegung, schien es die Verkörperung von Kraft und Geschwindigkeit.
Hier, im lebenden Fleisch, verkörperten sich die graziösen Linien der großen Schiffe, die einst den Himmel der Erde beherrscht hatten. Evolution und Wissenschaft waren zum gleichen Ergebnis gelangt; und das Werk der Natur hatte das des Menschen überdauert.
Schließlich löste sich Alvin aus der Verzauberung des Sees und setzte seinen Weg auf der sich dahinschlängelnden Straße fort. Wieder schloß sich der Wald um ihn, diesmal aber nur für kurze Zeit. Kurz danach endete die Straße in einer großen Lichtung von einem Kilometer Breite und zwei Kilometer Länge — und Alvin verstand, warum er vorher keine Spur von Menschen gesehen hatte.
In der Lichtung standen zahlreiche niedrige, zweistöckige Häuser, in zarten Farben bemalt, die dem Auge sogar im grellen Sonnenschein wohl taten. Die meisten Häuser besaßen klare und unkomplizierte Linien, aber verschiedene Gebäude waren in einem komplizierten Architekturstil erbaut, der kannelierte Säulen und graziöses Steingitterwerk verwendete.
Während er langsam auf die Siedlung zuschritt, bemühte sich Alvin noch immer, seine neue Umgebung geistig in den Griff zu bekommen. Nichts war vertraut; selbst die Luft hatte sich verändert, mit ihren Andeutungen versteckten, pochenden Lebens. Und die großen, blondhaarigen Menschen, die mit unbewußter Grazie zwischen den Gebäuden schritten, waren offensichtlich von anderer Art als die Menschen Diaspars.
Sie nahmen keine Notiz von Alvin, und das war seltsam, denn seine Kleidung unterschied sich beträchtlich von ihren Gewändern. Da die Temperatur in Diaspar keinem Wechsel unterlag, diente die Kleidung ausschließlich Schmuckzwecken. Hier galt sie in erster Linie dem Gebrauch; oft bestand sie nur aus einem einzigen togaartigen Tuch, in das der ganze Körper gehüllt war.
Erst als Alvin den Mittelpunkt der Siedlung erreicht hatte, reagierten die Bewohner von Lys auf seine Gegenwart; ihre Reaktion nahm eine etwas unerwartete Form an. Eine Gruppe von fünf Männern trat aus einem der Häuser und ging auf ihn zu — fast schien es, als hätten sie ihn erwartet.
Alvin fühlte eine plötzliche, berauschende Erregung; das Blut pochte schneller in seinen Adern. Er dachte an all die schicksalhaften Begegnungen, die der Mensch mit anderen Rassen auf fernen Welten gehabt haben mußte. Die Leute, die er hier traf, waren von seiner eigenen Rasse — aber wie groß war der Unterschied?
Die Abordnung blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Ihr Anführer lächelte und streckte ihm die Hand in der uralten Geste der Freundschaft entgegen.
„Wir hielten es für das beste, Sie hier zu empfangen“, sagte er. „Unsere Heimat unterscheidet sich sehr von Diaspar, und der Spaziergang vom Bahnhof hierher gibt Besuchern die Möglichkeit, sich zu akklimatisieren.“
Alvin nahm die angebotene Hand, konnte aber vor Überraschung kein Wort herausbringen. Jetzt begriff er, warum ihn alle anderen Bewohner der Siedlung ignoriert hatten.
„Ihr wußtet, daß ich komme?“ fragte er nach einer Weile.
„Natürlich. Wir wissen immer, wenn sich die Fahrzeuge in Bewegung setzen. Sagen Sie — wie haben Sie es herausgefunden? Der letzte Besuch ist so lange her, daß wir schon befürchteten, das Geheimnis sei verlorengegangen.“
Der Sprecher wurde von einem seiner Begleiter unterbrochen.
„Ich glaube, wir zügeln unsere Neugier Gerane. Seranis wartet.“
Vor dem Namen ›Seranis‹ hatte der Mann noch ein Wort gebracht, das Alvin nicht kannte; wahrscheinlich war es irgendein Titel. Die Verständigung mit den anderen bereitete ihm keine Schwierigkeiten, und er dachte gar nicht daran, das erstaunlich zu finden. Diaspar und Lys gehörten zum gleichen Sprachstamm, und die alte Erfahrung der Tonaufzeichnung hatte die Sprache schon vor langer Zeit in eine unveränderliche Form geprägt.
Gerane zuckte in gespielter Resignation die Achseln. „Also gut“, sagte er lächelnd, „Seranis hat wenige Vorrechte — ich darf ihr das nicht nehmen.“
Während sie weiter in den Ort hineingingen, beobachtete Alvin die Männer an seiner Seite. Sie schienen freundlich und klug, aber diese Züge waren ihm selbstverständlich, und er suchte nach Merkmalen, in denen sie sich von einer vergleichbaren Gruppe in Diaspar unterschieden. Es gab Unterschiede, aber man konnte sie nur schwer definieren. Alle Männer waren etwas größer als Alvin, und zwei von ihnen wiesen unmißverständliche Anzeichen des Alters auf. Ihre Haut war sehr braun, und in allen Bewegungen schienen sie eine Energie und Lebenslust auszustrahlen, die Alvin gefiel, ihn aber gleichzeitig ein wenig verwirrte. Er lächelte bei der Erinnerung an Khedrons Prophezeiung, daß Lys das genaue Ebenbild Diaspars sein würde.
Die Bewohner des Ortes sahen jetzt mit offener Neugier zu, als Alvin seinen Führern folgte; sie gaben nicht mehr vor, seine Anwesenheit als selbstverständlich hinzunehmen. Unter den Bäumen auf der rechten Seite erhob sich plötzlich lautes Geschrei; eine Schar kleiner, aufgeregter Wesen sauste aus dem Wald und drängte sich um Alvin. Fassungslos vor Überraschung blieb er stehen; er wagte seinen Augen nicht zu trauen. Hier war etwas, das seine Welt schon vor so langer Zeit verloren hatte, daß es zum Bereich der Mythologie gehörte. So hatte das Leben einst begonnen; diese lärmenden, faszinierenden Wesen waren Kinder.
Alvin beobachtete sie mit staunender Ungläubigkeit — und auch ein anderes Gefühl zerrte an seinem Herzen, aber er konnte es noch nicht benennen. Kein anderer Anblick hätte ihm die Ferne Diaspars deutlicher fühlen lassen können. Diaspar hatte für seine Unsterblichkeit bezahlt — und mehr als bezahlt.
Die Gruppe blieb vor dem größten Gebäude stehen, das Alvin bisher gesehen hatte. Es stand im Mittelpunkt der Siedlung, und von einem Fahnenmast auf seinem kleinen Rundturm flatterte ein grüner Wimpel im Wind.
Außer Gerane blieben alle zurück, als Alvin das Haus betrat. Im Innern war es kühl und still; das durch die durchscheinenden Wände dringende Sonnenlicht ließ alles in sanftem, beruhigendem Schimmer erglühen. Der Boden, mit zierlichem Mosaik ausgelegt, war glatt und elastisch. An den Wänden hatte ein großartiger Künstler eine Reihe von Waldszenen geschaffen. Zwischen diesen Gemälden befanden sich andere Wandzeichnungen, die Alvin nicht verstand, die aber trotzdem angenehm wirkten. In eine Wand eingelassen fand sich ein rechteckiger Bildschirm, auf dem sich ein Durcheinander von Farben bewegte.
Sie stiegen gemeinsam eine Treppe hinauf, die sie auf das flache Dach des Hauses führte. Von dort aus konnte man die ganze Siedlung überblicken, und Alvin stellte fest, daß sie aus etwa hundert Gebäuden bestand. In der Ferne lichteten sich die Bäume, um weite Wiesen einzufassen, auf denen verschiedene Arten von Tieren weideten. Alvin kannte sie nicht; die meisten waren Vierfüßler, aber einige besaßen sechs oder sogar acht Füße.