Diaspar hat uns überrascht. Wir erwarteten, daß es den Weg aller anderen Städte gehen würde, aber es hat eine stabile Kultur entwickelt, die so lange bestehen dürfte wie die Erde selbst. Es ist nicht eine Kultur, die wir bewundern, aber wir sind froh, daß es denjenigen, die entfliehen wollten, gelungen ist. Mehr Menschen, als Sie glauben, haben diese Fahrt unternommen, und es waren fast immer hervorragende Menschen, die etwas Wertvolles mitbrachten, wenn sie nach Lys kamen.“
Die Stimme verklang; die Lähmung der Sinne Alvins verschwand, und er war wieder er selbst. Er sah mit Erstaunen, daß die Sonne hinter den Bäumen hinabgesunken war und der östliche Himmel schon eine Andeutung der Nacht aufwies. Irgendwo ertönte eine große Glocke mit dröhnendem Brummen, das langsam in der Stille verebbte und die Luft mit Geheimnissen und Vorahnungen zu erfüllen schien. Alvin zitterte, nicht wegen der ersten Abendkühle, sondern aus Staunen über all das, was er erfahren hatte. Es war sehr spät, und er befand sich weit von zu Hause.
Er fühlte plötzlich den Drang, seine Freunde wiederzusehen und zwischen den vertrauten Bildern und Szenen Diaspars zu sein.
„Ich muß zurück“, sagte er. „Khedron — meine Eltern — sie erwarten mich.“
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit; sicher würde sich Khedron fragen, was mit ihm geschehen war, aber sonst wußte niemand, daß er Diaspar verlassen hatte. Er wäre nicht in der Lage gewesen, für diese harmlose Lüge einen Grund anzugeben, und er schämte sich ein bißchen, als er sie ausgesprochen hatte.
Seranis sah ihn gedankenvoll an.
„Ich fürchte, daß das nicht so ganz einfach ist“, sagte sie.
„Wie meinen Sie das?“ fragte Alvin. „Kann mich das Fahrzeug, mit dem ich hergekommen bin, nicht wieder zurückbringen?“ Er weigerte sich immer noch, die Tatsache anzuerkennen, daß man ihn gegen seinen Willen in Lys zurückhalten könne, obwohl der Gedanke schon einmal kurz durch sein Gehirn gehuscht war.
Seranis schien sich zum erstenmal etwas unbehaglich zu fühlen.
„Wir haben über Sie gesprochen“, sagte sie — ohne zu erklären, wer ›wir‹ sein könnte, noch wie sie sich verständigt hatten. „Wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, wird die ganze Stadt von uns erfahren. Selbst wenn Sie versprechen würden, nichts zu verraten, könnten Sie Ihr Geheimnis nicht bewahren.“
„Warum wollen Sie überhaupt, daß es ein Geheimnis bleibt?“ fragte Alvin. „Es wäre doch gewiß eine gute Sache für uns beide, wenn wir wieder zusammentreffen könnten.“
Seranis war ungehalten.
„Wir sind nicht dieser Meinung“, erwiderte sie. „Wenn wir die Tore öffneten, würde unser Land von den Neugierigen und Sensationshungrigen überflutet werden. Bisher ist es stets nur den Besten von euren Leuten gelungen, Lys zu erreichen.“
Diese Antwort strahlte so viel unbewußte Überlegenheit aus und beruhte auf so falschen Annahmen, daß Alvins Unruhe durch seinen Ärger verdeckt wurde.
„Das ist nicht wahr“, sagte er geradeheraus. „Ich glaube nicht, daß Sie noch einen Menschen in Diaspar finden, der die Stadt verlassen könnte, selbst wenn er wollte — selbst wenn er wüßte, daß es ein Ziel gibt. Wenn Sie mich zurückkehren lassen, ändert sich für Lys überhaupt nichts.“
„Die Entscheidung liegt nicht bei mir“, erklärte Seranis, „und Sie unterschätzen die Kräfte des Geistes, wenn Sie glauben, daß die Schranken, von denen Ihre Leute in Diaspar gehalten werden, nie zu brechen sind.
Wir wollen Sie jedoch nicht gegen Ihren Willen zurückhalten, aber wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, müssen wir alle Erinnerungen an Lys aus Ihrem Gedächtnis löschen.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Dieses Problem hat sich noch nie gestellt; alle Ihre Vorgänger kamen, um hierzubleiben.“
Das war eine Wahl, die Alvin nicht anzunehmen wünschte. Er wollte Lys durchforschen, seine Geheimnisse lüften, die Art entdecken, in der es sich von Diaspar unterschied. Aber er war gleichermaßen entschlossen, nach Diaspar zurückzukehren, um seinen Freunden zu beweisen, daß er kein weltfremder Träumer war. Er konnte die Gründe für diesen Wunsch nach Geheimhaltung nicht verstehen; selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte das an seiner Haltung nichts geändert.
Es war ihm klar, daß er Zeit gewinnen oder Seranis davon überzeugen mußte, daß er sich ihren Wünschen nicht fügen konnte.
„Khedron weiß, wo ich bin“, sagte er. „Sein Gedächtnis könnt ihr nicht auslöschen.“
Seranis lächelte. Es war ein angenehmes Lächeln, und unter anderen Umständen hätte man es wohl freundlich nennen können. Aber dahinter erkannte Alvin zum erstenmal die Gegenwart einer überwältigenden und unerbittlichen Macht.
„Sie unterschätzen uns, Alvin“, erwiderte sie. „Das wäre sogar ganz leicht. Ich kann Diaspar schneller erreichen, als ich Lys zu durchqueren vermag. Vor Ihnen sind andere hierhergekommen, und einige von ihnen erzählten ihren Freunden, wohin sie gingen. Diese Freunde haben sie vergessen, und sie verschwanden aus der Geschichte Diaspars.“
Alvin war unklug gewesen, diese Möglichkeit zu übersehen, obwohl sie jetzt allzu deutlich erschien, nachdem Seranis darauf hingewiesen hatte.
Er fragte sich, wie oft in den Millionen Jahren seit der Trennung dieser beiden Kulturen Menschen aus Lys nach Diaspar gegangen waren, um ihr eifersüchtig gehütetes Geheimnis zu bewahren. Und er fragte sich auch, wie weitreichend tatsächlich die geistigen Kräfte waren, über die diese seltsamen Menschen verfügten und die sie nicht anzuwenden zögerten.
War es sicher, überhaupt Pläne zu schmieden? Seranis hatte versprochen, seine Gedanken nicht ohne seine ausdrückliche Zustimmung zu lesen, aber er fragte sich, ob es nicht Umstände geben konnte, unter denen dieses Versprechen nicht gehalten wurde…
„Sie erwarten doch sicher nicht“, sagte er, „daß ich meine Entscheidung sofort treffe. Kann ich nicht noch einiges von Ihrem Land sehen, ehe ich mich entschließe?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Seranis. „Sie können hierbleiben, solange Sie wollen, und jederzeit nach Diaspar zurückkehren, sobald Sie Ihren Vorsatz ändern. Aber es wäre wesentlich einfacher, wenn Sie sich im Verlaufe der nächsten Tage entscheiden könnten. Sie wollen sicher nicht, daß sich Ihre Freunde um Sie sorgen, und je länger Sie fortbleiben, desto schwerer wird es für uns, die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.“
Alvin konnte das verstehen; er hätte allerdings gerne gewußt, welcher Art diese ›Veränderungen‹ waren. Vermutlich würde jemand aus Lys mit Khedron Kontakt aufnehmen — ohne daß es der Spaßmacher überhaupt merkte — und sein Gedächtnis beeinflussen. Alvins Verschwinden konnte zwar nicht verheimlicht werden, aber man würde die Informationen, die er und Khedron entdeckt hatten, beseitigen. Im Laufe der Zeit würde sich Alvins Name zu den anderen Einzigartigen gesellen, die auf geheimnisvolle Weise spurlos verschwunden und — vergessen worden waren.
Hier lagen viele Geheimnisse, und er schien ihrer Lösung nicht nähergekommen zu sein. Existierte hinter der eigenartigen, einseitigen Beziehung zwischen Lys und Diaspar irgendein Sinn, oder handelte es sich einfach um einen geschichtlichen Zufall? Wer und was waren die Einzigartigen, und, wenn die Leute aus Lys nach Diaspar gelangen konnten, warum hatten sie dann nicht die Gedächtnisanlagen gelöscht, die den Schlüssel zu ihrer Existenz enthielten? Vielleicht war das die einzige Frage, auf die Alvin eine überzeugende Antwort wußte. Das Zentral-Elektronengehirn dürfte ein zu hartnäckiger Gegner sein und konnte wohl selbst von den fortgeschrittensten geistigen Techniken kaum beeinflußt werden…