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Er schob diese Probleme beiseite; eines Tages, wenn er wesentlich mehr gelernt hatte, konnte er sie vielleicht lösen. Es war müßig zu spekulieren, eine Pyramide von Vermutungen auf einem Fundament der Unwissenheit zu errichten.

„Nun gut“, sagte er — wenn auch nicht besonders liebenswürdig, weil ihn dieses unerwartete Hindernis immer noch ärgerte. „Ich gebe Ihnen meine Antwort, sobald ich kann — wenn Sie mir Ihr Land zeigen.“

„Gut“, erwiderte Seranis, und diesmal verbarg ihr Lächeln keine Drohung. „Wir sind stolz auf Lys, und es wird uns ein Vergnügen sein, Ihnen zu zeigen, wie Menschen ohne die Hilfe von Städten leben. Inzwischen brauchen Sie sich nicht zu sorgen — Ihre Freunde werden über Ihre Abwesenheit nicht beunruhigt sein. Dafür sorgen wir, und sei es nur zu Ihrem eigenen Schutz.“ Zum erstenmal hatte Seranis ein Versprechen gegeben, das sie nicht halten konnte.

11

Es gelang Alystra nicht, Khedron zu weiteren Auskünften zu bewegen.

Der Spaßmacher erholte sich schnell von seinem ersten Schock und der Panik, die ihn nach oben getrieben hatte, als er sich allein in den Tiefen unter dem Grabmal fand. Er schämte sich seines feigen Verhaltens und überlegte, ob er jemals wieder den Mut aufbringen würde, zur Höhle der Fließstraßen und des Tunnelnetzes zurückzukehren. Obwohl er der Meinung war, daß sich Alvin vorschnell und unvernünftig benommen hatte, glaubte er nicht wirklich an eine Gefahr für ihn. Er würde schon wieder zurückkommen, dessen war Khedron sicher. Nun, fast sicher; er fühlte gerade so viel Zweifel, daß ihm eine gewisse Vorsicht am Platze schien.

Es war klüger, entschied er sich, jetzt sowenig wie möglich zu sagen und die ganze Sache als Spaß abzutun.

Unglücklicherweise konnte er seine Gefühle nicht verbergen, als ihn Alystra bei seiner Rückkehr an die Oberfläche zur Rede stellte. Sie hatte in seinen Augen unverkennbare Furcht gelesen und sie sofort als Zeichen dafür ausgelegt, daß sich Alvin in Gefahr befand. Alle Versicherungen Khedrons blieben wirkungslos, und als sie gemeinsam durch den Park zurückgingen, geriet sie immer mehr in Zorn. Zuerst wollte sie am Grabmal bleiben und auf Alvin warten. Es war Khedron gelungen, Alystra davon zu überzeugen, daß das Zeitverschwendung sei. Es bestand die Möglichkeit, daß Alvin sofort zurückkam, und er wollte nicht, daß jemand das Geheimnis Yarlan Zeys entdeckte.

Als sie die Stadt erreichten, merkte Khedron, daß seine ausweichende Taktik völlig versagt hatte und ihm die ganze Sache aus der Hand geglitten war. Zum erstenmal in seinem Leben befand sich Khedron in Verlegenheit; er wußte nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Seine vorübergehende und unvernünftige Angst wurde jetzt von einer tieferen und ernsthafteren Beunruhigung verdrängt. Bisher hatte Khedron kaum an die Folgen seines Vorgehens gedacht.

Trotz des Unterschiedes an Jahren und Erfahrung zwischen ihnen war Alvins Wille immer der mächtigere gewesen. Jetzt konnte man nichts mehr ändern; Khedron fühlte, daß er von den Ereignissen hilflos mitgerissen wurde.

Im Hinblick darauf schien es ein wenig ungerecht, daß ihn Alystra offensichtlich als Alvins bösen Geist betrachtete und Neigung zeigte, ihm die Schuld an allen Vorkommnissen zuzuschreiben. Alystra war nicht eigentlich rachsüchtig, aber sie ärgerte sich, und ein Teil ihres Ärgers richtete sich gegen Khedron.

Sie trennten sich in eisigem Schweigen, als sie die große Rundstraße erreichten, die den Park umgab. Khedron sah Alystra in der Ferne verschwinden, und er fragte sich müde, welche Pläne sie wohl ausbrüten mochte.

Er konnte nur einer Sache völlig sicher sein. Langweilig würde es in der nächsten Zeit bestimmt nicht werden.

Alystra handelte schnell und mit Überlegung. Sie bemühte sich erst gar nicht, Eriston und Etania zu verständigen; Alvins Eltern waren nette, aber nichtssagende Leute. Sie würde nur ihre Zeit mit ihnen verschwenden.

Jeserac lauschte ihrer Geschichte ohne offenkundige Gemütsbewegung.

Wenn er überrascht und beunruhigt war, so verbarg er es geschickt — so geschickt, daß Alystra etwas enttäuscht war. Sie hatte den Eindruck, noch nie sei etwas so Außergewöhnliches und Wichtiges geschehen, und Jeseracs unbewegte Miene ernüchterte sie. Als sie zu Ende war, befragte er sie eingehend und deutete an, ohne es tatsächlich auszusprechen, daß sie sich getäuscht haben könnte. Welcher Grund bestand zu der Annahme, daß Alvin wirklich die Stadt verlassen hatte? Vielleicht war alles nur ein auf sie gemünzter Streich gewesen; die Beteiligung Khedrons machte das sogar sehr wahrscheinlich. Vielleicht lachte Alvin, in diesem Augenblick irgendwo in Diaspar versteckt, über sie.

Die einzige positive Reaktion, die sie Jeserac entlocken konnte, war das Versprechen, Nachforschungen anzustellen und sie am nächsten Tag von dem Ergebnis zu unterrichten. In der Zwischenzeit solle sie sich keine Sorgen machen, und außerdem sei es am besten, wenn sie keinem Menschen von der Angelegenheit erzähle. Es sei nicht nötig, wegen eines Vorfalls Aufregung zu stiften, den man wahrscheinlich in wenigen Stunden aufklären könne.

Alystra verließ Jeserac enttäuscht. Sie wäre zufriedener gewesen, wenn sie sein Verhalten kurz nach ihrem Weggang gesehen hätte.

Jeserac besaß Freunde im Rat; er war im Laufe seines langen Lebens selbst Mitglied gewesen und würde es bei etwas Pech wieder werden. Er rief drei seiner einflußreichsten Kollegen und weckte vorsichtig ihr Interesse. Als Alvins Lehrer wußte er, wie heikel seine Lage war, so daß er sich entsprechend absicherte.

Man einigte sich darauf, sofort mit Khedron in Verbindung zu treten und eine Erklärung zu verlangen. Dieser Plan hatte nur einen kleinen Fehler.

Khedron hatte ihn vorausgesehen; er war nirgends zu finden.

Wenn Alvins Lage etwas Zweideutiges anhaftete, so bemühten sich seine Gastgeber jedenfalls, ihn nicht daran zu erinnern. Es stand ihm frei, sich überall in Airlee umzusehen, wie die kleine Siedlung hieß, über die Seranis herrschte — obwohl das Wort ›herrschen‹ für ihre Stellung zu stark war. Manchmal schien es Alvin, als führe sie eine gemäßigte Diktatur, aber bei anderen Gelegenheiten hatte es den Anschein, als besitze sie überhaupt keine Macht. Bisher war es ihm völlig mißlungen, das Gesellschaftssystem von Lys zu begreifen, entweder weil es zu einfach oder weil es so kompliziert war, daß sich ihm seine Verästelungen entzogen. Mit Sicherheit hatte er nur festgestellt, daß Lys in unzählige Dörfer unterteilt war, wobei Airlee als typisches Beispiel gelten durfte. Aber in gewisser Hinsicht wiederum gab es gar keine typischen Beispiele, denn man hatte Alvin versichert, daß sich jede Siedlung bemühte, ihren Nachbarn so wenig wie möglich zu gleichen.

Obwohl Airlee sehr klein war und weniger als tausend Einwohner zählte, bot es viele Überraschungen. Es gab kaum einen Lebensaspekt, der nicht von seinem Gegenstück in Diaspar abwich. Die Unterschiede erstreckten sich sogar auf so grundlegende Dinge wie die Sprache. Nur die Kinder benützten ihre Stimmen zur normalen Verständigung; die Erwachsenen sprachen kaum jemals, und nach einer Weile entschied Alvin, daß sie es nur aus Höflichkeit ihm gegenüber taten. Es war eine seltsame Erfahrung, sich in einem großen Netz aus geräuschlosen und unaufspürbaren Worten eingesponnen zu fühlen, aber nach einer Weile gewöhnte sich Alvin daran. Eigentlich war es erstaunlich, daß sich die Lautsprache überhaupt erhalten hatte, aber Alvin entdeckte später, daß die Menschen von Lys den Gesang und alle Arten der Musik liebten. Ohne diesen Anreiz wären sie wahrscheinlich völlig verstummt.

Sie waren immer sehr beschäftigt, mit Aufgaben und Problemen, die Alvin gewöhnlich unverständlich blieben. Wo er begriff, was sie taten, schien vieles an ihrer Arbeit ziemlich unnötig. Ein beträchtlicher Teil der Nahrung wurde tatsächlich angebaut und nicht synthetisch hergestellt.