Alvin war gesundheitlich in bester Verfassung, ja, er war in seinem ganzen Leben noch nicht eine Stunde krank gewesen. Aber körperliches Wohlbefinden, so wichtig und notwendig es auch sein mochte, genügte nicht für die Aufgabe, vor der er jetzt stand. Er hatte den Körper, aber nicht die erforderliche Geschicklichkeit dazu. Hilvars leichte Schritte, sein müheloses Vorwärtsstreben, erfüllten Alvin mit Neid und der Entschlossenheit, nicht aufzugeben, solange er noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er wußte ganz genau, daß ihn Hilvar prüfen wollte, und nahm ihm das nicht übel. Es war ein gutmütiges Spiel, und er beteiligte sich daran, obwohl sich die Müdigkeit in seinen Beinen festsetzte.
Hilvar hatte Mitleid mit ihm, als zwei Drittel des Aufstiegs zurückgelegt waren; sie rasteten eine Weile, an eine westlich gerichtete Böschung gelehnt, und ließen sich von der warmen Sonne bescheinen. Das donnernde Geräusch ertönte jetzt sehr laut, und obwohl ihn Alvin danach fragte, weigerte sich Hilvar, eine Erklärung zu geben. Er sagte, er würde die Überraschung verderben, wenn Alvin wüßte, was ihn am Ende der Kletterei erwartete.
Sie liefen jetzt gegen die Sonne, aber glücklicherweise war der Rest des Weges nicht sehr steil. Die Bäume wurden lichter, als seien sie zu müde, gegen die Schwerkraft anzukämpfen; auf den letzten paar hundert Metern war der Boden mit kurzem, drahtigem Gras bedeckt, auf dem es sich sehr gut laufen ließ. Als der Gipfel in Sicht kam, sauste Hilvar in einem plötzlichen Energieausbruch die Steigung hinauf. Alvin beschloß, die Herausforderung nicht anzunehmen; es blieb ihm gar keine andere Wahl. Es genügte ihm, langsam und gleichmäßig vorwärtszustapfen und, als er Hilvar erreicht hatte, in befriedigter Erschöpfung neben ihm zu Boden zu sinken.
Erst als er seinen Atem wiedergewonnen hatte, konnte er die Ansicht genießen und den Ursprung des unaufhörlichen Donners sehen, der jetzt die Luft erfüllte. Der Grund vor ihm neigte sich steil nach unten — so steil, daß er bald zu einer senkrechten Wand wurde. Und hoch über diese Wand hinausspringend glitzerte ein mächtiges Band aus Wasser, das sich in den Raum hinauswölbte, um dreihundert Meter tiefer auf den Fels zu treffen. Dort verlor es sich in einem schimmernden Sprühnebel, während aus der Tiefe dieser trommelnde Donner stieg und mit hohlem Echo von den umliegenden Bergen zurückgeworfen wurde.
Der Wasserfall lag jetzt zum größten Teil im Schatten, aber das am Berg vorbeiflutende Sonnenlicht erleuchtete immer noch das weite Land und fügte den letzten Pinselstrich zum Zauber dieser Szene. Denn in leuchtender Schönheit zitterte über dem Grund des Wasserfalls der letzte Regenbogen der Erde.
Hilvar schwenkte seinen Arm in einer weiten Bewegung, die den ganzen Horizont umfaßte.
„Von hier aus“, sagte er mit lauter Stimme, um den Wasserfall zu übertönen, „kann man ganz Lys überblicken.“
Alvin glaubte es ihm. Im Norden erstreckte sich Kilometer um Kilometer der Wald, hier und dort von Lichtungen, Feldern und den wandernden Bändern vieler Flüsse unterbrochen. Irgendwo in diesem gewaltigen Panorama versteckt lag Airlee. Alvin bildete sich ein, den See aufblitzen zu sehen, an dem vorbei der Weg nach Lys führte, entschied aber, daß er sich getäuscht haben mußte. Noch weiter im Norden verloren sich Wald und Felder in einen gefleckten grünen Teppich, hier und dort von Hügeln hochgewölbt. Und jenseits davon lagen die Berge, die Lys vor der Wüste schützten wie eine ferne Wolkenbank.
Im Osten und Westen war der Ausblick wenig anders, aber im Süden schienen die großen Berge nur ein paar Kilometer entfernt zu sein. Alvin konnte sie ganz deutlich erkennen, und er begriff, daß sie sehr viel höher waren als der kleine Gipfel, auf dem er stand. Dazwischen lag Land, das viel wilder schien als das Gebiet, das sie durchfahren hatten. In einer undefinierbaren Weise schien es verlassen und leer, als hätte der Mensch hier viele, viele Jahre nicht mehr gelebt.
Hilvar beantwortete Alvins stumme Frage: „Früher war dieser Teil von Lys bewohnt“, sagte er. „Ich weiß nicht, warum man es aufgegeben hat; vielleicht ziehen wir eines Tages wieder hin. Jetzt leben nur die Tiere dort.“
In der Tat, nirgends war ein Zeichen menschlichen Lebens zu sehen — keine der Lichtungen und gebändigten Flüsse, die von der Gegenwart des Menschen zeugten. Nur an einer Stelle gab es einen Hinweis darauf, daß er jemals dort gelebt hatte, denn viele Kilometer entfernt hob sich eine einsame weiße Ruine wie ein gebrochener Stoßzahn über den Wald. Überall sonst herrschte der Dschungel.
Die Sonne sank hinter dem westlichen Wall von Lys. Einen atemlosen Augenblick schienen die fernen Berge von goldenen Flammen umzüngelt; dann ertrank das Land vor ihnen im Schatten, und die Nacht war gekommen.
„Wir hätten das vorher tun sollen“, sagte Hilvar, praktisch wie immer, als er die Ausrüstung auspackte. „In fünf Minuten wird es stockdunkel sein — und kalt dazu.“
Seltsame Geräte begannen das Gras zu bedecken. Ein dünner Dreifuß streckte einen Metallstab in die Höhe, der am anderen Ende ein kugelförmiges Gebilde trug. Hilvar schob den Stab in die Höhe, bis die Kugel über ihren Köpfen stand, und gab ein Gedankensignal, das Alvin nicht auffangen konnte. Im Nu war ihr kleines Lager mit Licht überflutet; die Dunkelheit zog sich zurück. Die Kugel spendete nicht nur Licht, sondern auch Wärme, denn Alvin konnte ein sanftes Glühen fühlen, das ihm bis ins Mark zu dringen schien.
Den Dreifuß in der einen, seinen Packen in der anderen Hand, ging Hilvar den Abhang hinunter, während Alvin hinuntereilte, um im Bereich des Lichtes zu bleiben. Hilvar schlug schließlich in einer kleinen Mulde, wenige hundert Meter unter dem Gipfel, das Lager auf und begann, den Rest seiner Ausrüstung aufzustellen.
Zuerst kam eine große Halbkugel aus starrem und nahezu unsichtbarem Material, die sie völlig umschloß und vor der kühlen Brise schützte, die jetzt über den Berg strich. Diese Kuppel schien von einem kleinen rechteckigen Kasten erzeugt zu werden, den Hilvar auf den Boden stellte und dann vollkommen unbeachtet ließ, ja, er türmte sogar die anderen Ausrüstungsgegenstände darauf. Vielleicht erzeugte der Kasten außerdem die gemütlichen, halbdurchsichtigen Sofas, auf denen sich Alvin so gerne ausruhte.
Die Mahlzeit, die Hilvar aus einem anderen seiner Geräte produzierte, war die erste synthetische, die Alvin seit seiner Ankunft in Lys gegessen hatte. Im ganzen gesehen, gab Alvin synthetischer Nahrung den Vorzug, weil ihm die Zubereitung der anderen Art unhygienisch erschien.
Sie setzten sich zum Abendessen, während die Sterne herauskamen.
Als sie gegessen hatten, war es jenseits ihres Lichtkreises völlig dunkel, und am Rand des Lichtes konnte Alvin verschwommene Umrisse erkennen, als die Waldtiere aus ihren Verstecken krochen. Von Zeit zu Zeit sah er den Widerschein des Lichts aufblitzen, wenn ihn helle Augen anstarrten, aber die Tiere kamen nicht näher.
Es war sehr friedlich, und Alvin fühlte sich vollkommen zufrieden. Eine Weile lagen sie auf ihren Sofas und sprachen über die Dinge, die sie gesehen hatten, das Geheimnis, das sie beide umschloß, und die vielen Einzelheiten, in denen sich ihre beiden Kulturen unterschieden. Hilvar war vom Wunder der Ewigkeitsanlagen fasziniert, die Diaspar dem Griff der Zeit entzogen hatten, und Alvin stellte fest, daß. einige seiner Fragen sehr schwer zu beantworten waren.
„Was ich nicht verstehe“, sagte Hilvar, „ist, wie die Planer Diaspars sicherstellten, daß mit den Gedächtnisanlagen nie etwas schiefgehen konnte. Du sagst, daß die Informationen über die Stadt und die Menschen, die darin leben, als Strukturen elektrischer Impulse in Kristallen aufbewahrt werden. Nun, Kristalle halten ewig — aber was ist mit den Stromkreisen?“