„Ich habe Khedron die gleiche Frage gestellt, und er sagte mir, daß die Gedächtnisanlagen in dreifacher Ausfertigung vorhanden sind. Jede der drei Anlagen kann die Stadt erhalten, und wenn bei einer davon eine Störung auftritt, wird sie von den anderen beiden sofort korrigiert. Nur wenn die gleiche Störung zur gleichen Zeit bei zwei Anlagen auftreten würde, könnte sich ein dauernder Schaden ergeben — und die Wahrscheinlichkeit dafür ist unendlich klein.“
„Und wie wird die Beziehung zwischen den in den Gedächtnisanlagen gespeicherten Strukturen und dem wirklichen Gefüge der Stadt aufrechterhalten? Zwischen dem Plan sozusagen und dem Objekt, das er beschreibt?“
Hier versagten Alvins Kenntnisse. Er wußte, daß die Antwort mit Technologien zu tun hatte, die auf der Manipulation des Raumes beruhten — aber wie man ein Atom starr an einer Stelle fixieren konnte, entsprechend den an anderer Stelle gespeicherten Angaben, vermochte auch er nicht zu erklären.
In einem plötzlichen Einfall deutete er auf die unsichtbare Kuppel, die sie vor der Nacht schützte.
„Sag mir, wie dieses Dach von dem Kasten am Boden erzeugt wird“, antwortete er, „und dann erkläre ich dir, wie die Anlagen funktionieren.“
Hilvar lachte. „Ich glaube, das ist ein guter Vergleich. Du müßtest einen unserer Feldexperten fragen, wenn du das wissen willst. Ich habe jedenfalls keine Ahnung davon.“
Diese Antwort machte Alvin nachdenklich. Es gab also noch heute Leute in Lys, die verstanden, wie ihre Maschinen funktionierten; das war mehr, als man von Diaspar sagen konnte.
So unterhielten sie sich und diskutierten, bis Hilvar sagte: „Ich bin müde.
Was ist mit dir, wirst du schlafen?“ Alvin rieb seine müden Arme.
„Ich möchte gerne“, gestand er, „aber ich weiß nicht, ob es geht. Es kommt mir immer noch als seltsamer Brauch vor.“
„Es ist weit mehr als ein Brauch“, lächelte Hilvar. „Ich habe gehört, daß es einmal für jeden Menschen absolut notwendig war. Wir selbst schlafen mindestens einmal am Tag, wenn auch nur ein paar Stunden. Während dieser Zeit erfrischen sich Körper und Geist. Schläft man denn in Diaspar überhaupt nie?“
„Nur bei ganz seltenen Gelegenheiten“, sagte Alvin. „Jeserac, mein Lehrer, hat es ein- oder zweimal getan, nachdem er besonders außergewöhnliche geistige Anstrengungen vollbracht hatte. Ein gutentwickelter Körper sollte solche Ruheperioden nicht nötig haben; wir konnten schon vor Millionen Jahren darauf verzichten.“
Schon als er diese prahlerischen Worte sprach, strafte er sie Lügen. Er fühlte eine Müdigkeit wie nie zuvor; sie schien sich von seinen Schenkeln über den ganzen Körper auszubreiten. An diesem Gefühl war nichts Unangenehmes, ganz im Gegenteil. Hilvar beobachtete ihn mit amüsiertem Lächeln, und Alvin fragte sich, ob sein Begleiter seine geistigen Kräfte an ihm erprobte. Wenn er das wirklich tat, so hatte er nicht das geringste dagegen einzuwenden.
Das von der Kugel herabflutende Licht schmolz zu einem schwachen Glühen, aber die Wärme blieb. Beim letzten Flackern des Lichts registrierte Alvins Gehirn noch eine seltsame Tatsache, über die er am nächsten Morgen Aufschluß verlangen wollte.
Hilvar hatte seine Kleidung abgelegt, und Alvin bemerkte mit Erstaunen eine seltsame kleine Vertiefung in Hilvars Bauch.
Als er sich einige Tage später daran erinnerte, bedurfte sie einiger Erklärung. Zur Erklärung der Funktion des Nabels brauchte Hilvar viele tausend Worte und einige Zeichnungen.
Und sowohl er als auch Alvin hatten einen großen Schritt vorwärts im Verständnis der Grundlage ihrer Kulturen getan.
12
Mitten in der Nacht wachte Alvin auf. Irgend etwas hatte ihn gestört, ein leises Geräusch, das trotz des unaufhörlichen Donners des Wasserfalls zu ihm gedrungen war. Er richtete sich auf und starrte angestrengt in das Dunkel, während er mit angehaltenem Atem dem trommelnden Brausen des Wassers und den sanfteren, flüchtigeren Geräuschen der nächtlichen Kreaturen lauschte.
Nichts war zu sehen. Das Sternenlicht glomm zu schwach, um die weite Landschaft Hunderte von Metern unter ihm zu erhellen; nur eine gezackte dunklere Linie, die Sterne verdunkelnd, deutete auf das Gebirge am südlichen Horizont. In der Dunkelheit neben ihm rührte sich Hilvar.
„Was ist los?“ flüsterte er.
„Ich habe etwas gehört.“
„Was denn?“
„Ich weiß nicht recht. Vielleicht war es nur Einbildung.“
Schweigend starrten die beiden in die Nacht hinaus. Dann packte Hilvar Alvin plötzlich beim Arm. „Schau!“ flüsterte er.
Weit im Süden flimmerte ein einsamer Lichtpunkt, zu niedrig am Himmel für einen Stern. Er war strahlend weiß mit violettem Rand, und während sie ihn anstarrten, leuchtete er immer heller, bis die Augen den grellen Lichtkreis nicht mehr ertragen konnten. Dann explodierte er — und es schien, als sei der Blitz unter dem Rand der Welt eingeschlagen. Einen kurzen Augenblick zeichnete sich Gebirge und Land gegen das Dunkel der Nacht ab. Viel später drang das Echo einer weit entfernten Explosion zu ihnen, und in den Wäldern unten rührte sich ein jäher Wind zwischen den Bäumen. Er legte sich schnell, und nacheinander erschienen die Sterne wieder am Himmel.
Zum zweitenmal in seinem Leben fühlte Alvin Angst. Sie war nicht so persönlich und drohend wie in der Höhle der Fließstraßen, als er die Entscheidung gefällt hatte, die ihn nach Lys führte. Vielleicht war es eher Scheu als Angst; er sah dem Unbekannten ins Gesicht, und fast schien es, als habe er schon gespürt, daß da draußen, jenseits der Berge, etwas auf ihn wartete. „Was war das?“ flüsterte er schließlich.
„Ich will es festzustellen versuchen“, sagte Hilvar und schwieg wieder.
Alvin erriet sein Vorhaben und störte die stumme Suche seines Freundes nicht.
Bald darauf seufzte Hilvar enttäuscht. „Alles schläft“, sagte er. „Niemand konnte mir etwas sagen. Wir müssen bis zum Morgen warten, wenn ich nicht einen meiner Freunde wecke. Und das möchte ich vermeiden, solange es nicht besonders wichtig ist.“
Alvin fragte sich, was Hilvar als wirklich wichtige Angelegenheit betrachtete. Er wollte gerade ein wenig sarkastisch bemerken, daß es sich wegen ihres Erlebnisses wohl lohnen dürfte, jemand aus dem Schlaf zu reißen. Ehe er den Vorschlag machen konnte, begann Hilvar wieder zu sprechen.
„Es ist mir eben erst eingefallen“, sagte er entschuldigend. „Das war lange vor meiner Zeit, und ich bin mir auch über die Richtung nicht ganz im klaren. Aber das muß Shalmirane gewesen sein.“ „Shalmirane! Das existiert noch?“
„Ja. Ich hatte es fast vergessen. Seranis erzählte mir einmal, daß die Festung in diesen Bergen liegt. Natürlich ist sie seit vielen Jahrtausenden eine Ruine, aber vielleicht lebt dort noch jemand.“
Shalmirane! Für diese Kinder zweier Rassen, in Geschichte und Kultur so unterschieden, war das wirklich ein magischer Name. In der ganzen langen Geschichte der Erde hatte es kein größeres Heldenlied gegeben, als die Verteidigung Shalmiranes gegen einen Eindringling, der das ganze Universum erobert hatte. Obwohl sich die Tatsachen im Nebel der Frühzeit verloren, hatte man die Legenden nie vergessen.
Hilvars Stimme kam wieder aus der Dunkelheit. „Die Leute im Süden könnten uns mehr darüber sagen. Ich habe dort einige Freunde; morgen früh werde ich sie rufen.“
Alvin hörte ihn kaum; er war tief in seine Gedanken versunken und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er je über Shalmirane gehört hatte.
Es war wenig genug; nach dieser gewaltigen Zeitspanne konnte niemand mehr Wahrheit von Legende unterscheiden. Sicher war nur, daß die Schlacht von Shalmirane das Ende der Eroberungen des Menschen und den Beginn seines langen Abstiegs kennzeichnete.