An einer flachen Stelle des Ufers zogen sie das Boot aus dem Wasser, und nach einem bescheidenen Imbiß legten sie sich schlafen. Es war warm in der Höhle und wohlig zu schlafen. Aber Fred erwachte mitten in der Nacht und sann lange über die Lage nach, in der sie sich nun befanden.
,Was kann man da unternehmen?' fragte er sich. Wir können umkehren und an der Einsturzstelle abwarten, bis man uns findet, oder die Fahrt mit dem Boot fortsetzen. Umkehren hieße verzagen, schon ganz zu schweigen davon, daß es schrecklich ist, einfach dazusitzen und zu warten. Weiterfahren bedeutet Kampf. Nun denn, ich wähle den Kampf!' Mit diesem Gedanken schlief Fred wieder ein. Die Kinder erwachten nicht vom Morgengrauen, das es in der Höhle nicht gab, und auch nicht vor Kälte, denn es war ja warm in der Höhle, sondern vom Winseln des hungrigen Toto. Fred zündete kopf schüttelnd eine Fackel an — es waren nur noch wenige Streichhölzer da, und das machte ihm Sorge. Das hat uns noch gefehlt', dachte er…
Die Ration wurde noch mehr eingeschränkt, und nach einem kargen Frühstück zog die kleine Schar weiter. An diesem Tag legten sie nach Freds Berechnungen mindestens 50 Meilen zurück. Der Fluß war jetzt breit, tief und reißend. Um die Mitte des Tages wurde die Lage wiederum gefährlich. An mehreren Stellen schon hatte die Decke über dem Fluß so niedrig gehangen, daß Fred und Elli sich tief bücken mußten. Diese Stellen waren aber schnell passiert. Jetzt senkte sich plötzlich die Decke so tief, daß nur noch ein kleiner Spalt über dem Wasser zu sehen war. Der Fluß schäumte und toste in dem engen Bett. Blaß vor Schreck fragte Elli: „Was tun wir jetzt?"
Fred hielt, die Hände an einen Felsvorsprung geklammert, das Boot fest. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. „Wir müssen durch!" entschied er.
Da die Worte im Getose untergingen, deutete er Elli durch Zeichen an, mit Toto und dem Gepäck in den Bug zu kriechen, der sich gut verschließen ließ. Durch eine Geste fragte Elli:,Und du?'
Fred wies auf das Heck. Elli schlüpfte mit dem Hund in den Vorderteil des Boots. Für Fred jedoch war der Heckteil zu kurz. Er schlug sich die Zeltbahn um den Kopf, schöpfte tief Luft und legte sich flach auf den Boden des Boots. Im nächsten Augenblick erlosch die Fackel. Finsternis hüllte das Boot ein, das, von der Strömung gepackt, krachend durch den Felsspalt gepreßt wurde. Es blieb aber unversehrt, denn Bill Cunning hatte es sehr solide gebaut. Fred glaubte zu ersticken und wollte schon den Mund öffnen, um Atem zu holen, da gewahrte er, daß das Boot ruhig dahinglitt. Luft drang unter die Zeltbahn in seine Lungen, und obwohl es feuchte Höhlenluft war, fühlte er sich wie neugeboren.
Jetzt ist uns der Rückweg abgeschnitten', durchzuckte es ihn. Obwohl er von diesem Gang nichts Gutes erwartet hatte, krampfte sich ihm doch das Herz zusammen. Elli kroch aus ihrem Unterschlupf. Sie streichelte den zitternden Toto und versicherte, daß sie sich überhaupt nicht gefürchtet hätte. Beim Licht der Fackel sah sie den durchnäßten Fred und viel Wasser im Boot. Der Junge begann das Wasser auszuschöpfen.
Wieder vergingen drei Tage, das unterirdische Reich aber wollte kein Ende nehmen. Grotten und Gänge, Flüsse und Seen lösten einander in endloser Reihenfolge ab, und unsere Wanderer wußten gar nicht mehr, wie viele es waren. Glücklicherweise blieben ihnen Stromschnellen wie jene, in der sie fast erstickt wären, erspart. Zwar gab es Stromschnellen und kleine Wasserfälle, aber das Boot flog darüber hinweg, und wenn auch Wasser eindrang, so war es nicht viel, und Elli schöpfte es mit dem Becher wieder aus. Schlimm war, daß der Proviant schnell dahinschwand. Wie oft dachten die Kinder dankbar an die weise Vorsorge Frau Cats, die das volkstümliche Sprichwort befolgt hatte: „Fährst du für einen Tag weg, so nimm Brot für eine Woche mit." Sie hatten nur noch wenige Streichhölzer. Deshalb spaltete Fred die übriggebliebenen Fackelhölzchen in mehrere Teile, und jetzt besaßen die Kinder Kienspäne, die, wenn sie auch nur ein schwaches
Licht gaben, so doch den Weg erhellten. Nachts löschten sie die Fackeln nicht mehr aus, um Streichhölzer zu sparen. Elli und Fred hielten abwechselnd Wache und zündeten an der verlöschenden Fackel jedesmal eine neue an. Zum Glück war ihr Kienspanvorrat noch groß. Eines Nachts erwachte Elli in völliger Finsternis. Sie war während ihrer Wache eingeschlafen und hatte nicht gemerkt, wie der Span zu Ende brannte und erlosch. Schreckensbleich weckte sie Fred. „Fred, es ist etwas Furchtbares passiert!"
„Ach Elli, Elli!" sagte nur der Junge, aber er sagte es mit einer Stimme, daß das Mädchen zu schluchzen begann. „Schon gut, laß uns jetzt schlafen", beschwichtigte Fred. „Wir werden ja sowieso ein Streichholz anzünden müssen, wenn wir aufstehen." Danach schliefen sie sehr lange. Es war der sechste oder der siebente Tag ihrer unterirdischen Wanderung — die Kinder wußten es nicht mehr genau, denn sie hatten keine Uhr, und für sie begann die Nacht, wenn sie müde waren. Sie hatten eben einen langen, weiten Gang passiert und befanden sich nun wieder auf einem See, als die Felswände eigentümlich zu glitzern begannen. An das Glitzern des Tropfsteines hatten sie sich schon gewöhnt — sie achteten kaum noch auf die Säulen, die bald glatt, bald mit bizarren Tropfmustern bedeckt waren. Was Elli und Fred in dieser Höhle verwunderte, war etwas anderes. Es schien, als umgäben nicht steinerne Wände den See, sondern als hinge ein gewölbter dunkler Himmel mit funkelnden Sternen über ihnen, die rot, grün und blau leuchteten.
Elli fragte leise: „Fred, was ist das?"
„Ich weiß es nicht", erwiderte der Junge ebenso leise. „Vielleicht Edelsteine?"
Sie fuhren dicht an eine steil aus dem Wasser aufragende Wand heran und sahen große in den Fels gesprenkelte Splitter im Licht der Fackel funkeln. Elli, die einst im herrlichen Palast Goodwins gewesen war, erriet sogleich, was da funkelte.
„Fred, das sind Brillanten!" „Schwindelst du schon wieder?" „Aber nein, glaub mir, es sind Brillanten!"
„Wären es lieber Käsestücke", sagte der Junge mürrisch. „Aber versteh doch, Fred, das sind ganz teure Steine… und schön sind sie auch", fuhr das Mädchen fort. „Was nutzt uns das?" „Ach, das verstehst du nicht. Fred, sei doch so lieb und brich ein paar Steine heraus. Wenn wir einmal hinauskommen, ich wollte sagen, sobald wir wieder draußen sind, lasse ich mir beim Juwelier eine schöne Spange und ein Armband damit besetzen. Fred begann lustlos im Fels zu stochern. Er löste einige Steine heraus, doch als ihm das Messer beinahe ins Wasser fiel, wurde er so zornig, daß er die Steine in den See werfen wollte. Er besann sich aber, warf sie Elli vor die Füße und begann zu rudern. Als die Brillantenhöhle hinter ihnen lag, sagte das Mädchen nachdenklich: „Weißt du, Fred, ich glaube, hier beginnen die Wunder." „Na und?" entgegnete Fred mürrisch. „Du wirst jetzt wohl überall Wunder sehen!" „Und ich sag dir, dieser Weg führt bestimmt ins Wunderland." Fred erwiderte nichts, aber seinem Gesicht konnte man ablesen, daß dies sein sehnlichster Wunsch war.
Am neunten Tag der Reise ging der Proviant zu Ende. Elli war vom Hunger schon ganz schwach, auch um Toto stand es schlecht, nur Fred hielt sich noch gut auf den Beinen. Sie fuhren auf einem langen schmalen See, als Fred auf der steilen Uferwand plötzlich etwas Seltsames erblickte. „Schnecken!" rief der Junge aus. „Da haben wir etwas zu essen!" Dabei fiel ihm jedoch ein, daß der Vater ihm bei Wanderungen durch die Prärie oft gesagt hatte: „Du sollst von einer Nahrung, die du nicht kennst, nicht viel auf einmal essen, mein Junge! Sie kann schädlich sein!" Deshalb wollte Fred die Schnecken zuerst selbst einmal probieren. Mit Widerwillen schluckte er ein kleines Stück herunter — es hatte einen unangenehmen, scharfen Geschmack.,Das ist nichts für Elli', entschied er und spie den unzerkauten Rest aus. Das war richtig so, denn bald verspürte er ein Brennen im Magen, es wurde ihm schwindlig, und er verlor das Bewußtsein. Bestürzt eilte Elli ihrem Cousin zu Hilfe. Sie steckte den brennenden Span in einen Spalt am Bug des Bootes, spritzte Fred Wasser ins Gesicht und gab ihm aus der Feldflasche zu trinken. Nach einigen Minuten schlug der Junge die Augen auf, aber da zischte es plötzlich, und die Fackel erlosch.