Toto heulte markerschütternd, denn was er da sah, verschlug ihm die Sprache. In den Wolken war nämlich ein Pünktchen aufgetaucht, das schnell größer wurde und plötzlich einen ungeheuren Drachen mit einem Reiter auf dem Rücken erkennen ließ. Der Drache stieg tief hinab und zog ein paar Kreise um die Wanderer. Sein gelbweißer Bauch glänzte, die hautbespannten Flügel rauschten. Der Reiter, einen Bogen in den Händen und einen Köcher mit Pfeilen am Rücken, beobachtete die Kinder. Sein blasses Gesicht mit der Hakennase war reglos. Dann wendete er den Drachen und flog auf die Stadt zu.
„Nur keine Angst!" sagte Fred, der wieder Mut gefaßt hatte. „Auf die erste Begegnung kommt es an. Jetzt wird er unsere Ankunft melden. Elli, ordne dein Haar, du bist ja ganz zerzaust…"
Nach ein paar Hundert Schritt sahen Fred und Elli eine bunte Menschenmenge aus dem Stadttor strömen. Elli erbleichte, doch als die Menge näher kam, faßte sie sich ein Herz und ging auf eine Gruppe Männer zu, die sich durch ihr würdiges Aussehen von den anderen unterschieden. „Wir begrüßen euch von Herzen, meine Herren Bewohner des unterirdischen Landes."
Elli und Fred machten eine tiefe Verbeugung, doch Toto begann zu bellen, was in den vordersten Reihen Verwirrung auslöste. Als der Hund sich beruhigte, fuhr Elli fort:
„Glaubt nicht, daß wir Feinde oder Spione sind. Ein Zufall hat mich und meinen Cousin in euer Land verschlagen. Wir haben in unserer Heimat eine Höhle untersucht, und dann…", Ellis Stimme zitterte, „und dann schnitt uns ein Erdsturz den Rückweg ab. Um uns zu retten, gingen wir immer weiter, dann fuhren wir viele Tage mit einem Boot, wir wissen gar nicht mehr, wie lange schon. ."
Während sie so sprach, ging wieder ein Krieger mit einem Drachen in der Nähe nieder. Er sprang behende ab und trat auf einen Mann zu, der in würdiger Haltung in vorderster Reihe stand. Vor diesem machte er eine tiefe Verbeugung und sagte etwas. Darauf sprach der Mann, der kein anderer war als König Mentacho: „Mädchen, du lügst. Eben wurde mir gemeldet, daß euer Boot aus der Haut und den Rippen eines Sechsfüßers besteht. Bei euch oben kann es solche Boote nicht geben, die werden nur hier, unter der Erde, hergestellt." „Verzeiht, mein Herr", entgegnete Elli tapfer, doch ein Höfling wies sie zurecht: „Du sollst Eure Majestät sagen!" — „Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät", fuhr Elli fort, „unser Boot war aus Holz und Zeltbahn gebaut, aber ein Sechsfüßer hat es bei der verlassenen Stadt der Springer zertrampelt. Am Ufer haben wir dann diesen Lederkahn entdeckt, der sicher aus alten Zeiten stammt."
Die schlichten Worte Ellis machten auf die Zuhörer Eindruck, und ihre Gesichter hellten sich auf. König Mentacho sagte: „Du sprichst wohl die Wahrheit. Aber jetzt sag uns, wie du heißt, wer du bist, wer dieser Knabe ist und was für ein wunderliches Tier du auf dem Arm hältst."
Elli beantwortete die Fragen in umgekehrter Reihenf olge: „Dieses Tierchen ist mein Hund:. "
„Ich hab die Ehre, mich vorzustellen: Toto!" fiel ihr das Hündchen ins Wort. „Bei näherer Bekanntschaft dürft Ihr mich Totochen nennen." „Schweig, du Unverschämter!" fuhr Elli das Hündchen an und zog es am Ohr. „Seht, das ist ein sehr kluger und treuer Hund, nur etwas geschwätzig und vorlaut. Und der Junge, über den ihr mich fragtet, ist mein Cousin Fred Cunning aus Iowa. Er ist tapfer und gewandt und auch ein guter Reiter. Er kommt jetzt in die vierte Klasse. Was soll ich Euch von mir sagen? Ich heiße Elli Smith und bin ein ganz gewöhnliches kleines Mädchen aus der Steppe von Kansas."
Da kam aus der Menge eine giftige Stimme:
„Glaubt ihr kein Wort! Dieses ganz gewöhnliche kleine Mädchen hat zwei mächtige Zauberinnen, Gingema und Bastinda, umgebracht und den mächtigen Urfin Juice mit seinen grimmigen Holzsoldaten besiegt. Ich bitte Eure Majestäten um Verzeihung, daß ich ohne Erlaubnis zu sprechen wagte, aber ich konnte nicht an mich halten."
„Wer spricht da? Ach so, Ruf Bilan", rief der kleine feiste König Barbedo aus. „Na, tritt vor, versteck dich nicht. Du erzählst ja interessante Dinge." Die Anwesenden gaben den Weg frei. Ein Mann in Dienertracht trat hervor. Er blickte aus kleinen, verschwollenen Augen mit unverhohlener Feindschaft auf Elli. Toto bellte wütend, das Mädchen aber lachte. „Oh, das ist ja der Verräter Ruf Bilan, der ehemalige erste Minister seiner Majestät Urfin Juice. Ihr lebt, wie ich sehe? Und wir oben dachten schon, die Sechsfüßer hätten Euch zerrissen in der Höhle, in die Ihr vor dem Zorn des Volkes geflüchtet seid. Aber hier scheint es Euch ja auch nicht glänzend zu gehen?" Die Menge kicherte, und selbst die sieben Könige mußten lächeln. Diese Worte wirkten, und das dicke Gesicht Ruf Bilans lief rot an. König Mentacho verschlug es fast die Sprache vor Staunen. „Alle Achtung, Elli!" sagte er schließlich. „Dem Tagedieb da habt Ihr es aber gegeben! Doch wisset, nach Eurem Auftreten ist es kaum zu glauben, daß Ihr wirklich nur ein einfaches kleines Mädchen seid." „Gewiß nicht, Eure Majestät!" mischte sich Ruf Bilan wieder ein. „Sie ist eine Fee, und nicht umsonst kommt sie schon zum dritten Mal in unser Land. Sie hat von einem Einsturz geschwatzt, aber kann denn ein Einsturz eine Fee verschütten?"
„Hättet Ihr den Einsturz gesehen, würdet Ihr nicht so sprechen", rief Elli empört. „Das vorige Mal bin ich mit meinem Onkel Charlie in das Wunderland gekommen, weil der Scheuch und der Eiserne Holzfäller uns darum gebeten hatten, aber diesmal ist es gegen unseren Willen geschehen. Und jetzt haben Fred und ich nur den Wunsch, so schnell wie möglich heimzukehren zu unseren Eltern, die um uns trauern. Hab ich recht, Fred?" „Gewiß", brachte Fred mit Mühe hervor. Es war das erste Wort, das er zu den unterirdischen Menschen sagte.
„Laßt uns ziehen, Eure Majestäten", bat Elli. „Wir werden unsere Freunde wiedersehen und bestimmt ein Mittel finden, das Wunderland zu verlassen." „Euch ziehen lassen?" sagte Mentacho kopfschüttelnd. „Das müssen wir uns erst mal überlegen."
„Laßt sie nicht fort, Eure Majestäten", kreischte Ruf Bilan. „Ich hab, freilich ohne böse Absicht, Euch des Schlafwassers beraubt, aber ich will Euch ein Mittel zeigen, es wiederzugewinnen. Elli ist eine mächtige Fee, sie hat es schon oft bewiesen, und ihre Zauberkunst vermag vieles. ." In die Gesichter der sieben Könige trat ein Ausdruck lebhaften Interesses. „Jetzt versteh ich", rief König Barbedo, „die Heilige Quelle wiederherstellen — ja, das wäre eine Sache!" „Was fällt Euch ein?" rief Elli mit tränenerstickter Stimme. „Was für eine Heilige Quelle? Was für Zauberkunst? Ich verstehe überhaupt nichts!"
„Bald werdet Ihr alles verstehen", sagte mit der größten Liebenswürdigkeit König Mentacho. „In unserer bitteren Lage dürfen wir nichts unversucht lassen. Weder Euch noch Euren Gefährten soll ein Haar gekrümmt werden,
wir werden Euch die größten Ehren erweisen, aber daß Ihr in die obere Welt zieht, das kommt vorläufig nicht in Frage. ."
Dann wurden unsere verstörten Reisenden in den Regenbogenpalast abgeführt.
Fred, Elli und Toto bekamen prächtige Zimmer im organgefarbenen Teil des Palastes zugewiesen, und man gab ihnen gut zu essen, obwohl die Lebensmittel im Lande sehr knapp waren. Sie durften auch spazierengehen, allerdings nur in Begleitung von zwei Spionen. Zweimal fuhren die Kinder sogar mit einem Segelboot auf dem See. Ein leichter Wind trieb den Kahn über die leicht gekräuselte Wasserfläche, und Elli und Fred hatten fast das Gefühl, wieder in Freiheit zu sein. Aber am Segel saß ein schweigsamer Spion mit finsterem Gesicht und am Steuer ein anderer. Die Könige befürchteten nämlich, daß Elli und ihr Cousin auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, das unterirdische Land verlassen könnten. Schon am zweiten Tag ihres unfreiwilligen Aufenthalts in der Stadt der Sieben Könige erfuhren unsere Freunde, was es mit dem Schlafwasser auf sich hatte. Der Chronist Arrigo, ein kleiner hagerer Mann in mittleren Jahren mit klugem Gesicht und ernsten grauen Augen, erzählte ihnen die Geschichte. Sie erfuhren, wie der königliche Jäger Ortego vor Jahrhunderten zufällig die Quelle mit dem Zauberwasser entdeckte und wie dann der Hüter der Zeit, Bellino, auf die Idee kam, die Könige und ihren Hof einzuschläfern für die Zeit, in der sie nicht regierten.