„Er kommt zurück“, flüsterte Ijale einen Augenblick später, als Snarbi sich ihnen aus der entgegengesetzten Richtung näherte.
„Ich habe ein cervo erwischt“, verkündete er stolz und warf das Tier zu Boden. „Das gibt einen schönen Braten heute abend.“
Er wirkte völlig harmlos und unschuldig; nur in seinen Augen lag ein unsteter Ausdruck, der allerdings darauf zurückgeführt werden konnte, daß er von Natur aus stark schielte. Jason überlegte eine Sekunde lang, ob er die angebliche Gefahr wirklich richtig eingeschätzt hatte, dann erinnerte er sich an seine bisherigen Erfahrungen mit der Bevölkerung dieses Planeten und vergaß alle Zweifel. Snarbi beging kein Verbrechen, wenn er sie zu töten oder zu versklaven versuchte, sondern tat nur das, was jeder andere dieser Wilden an seiner Stelle getan hätte. Jason ging an seinen Werkzeugkasten und suchte nach Nieten, mit denen er die Fußfesseln befestigen konnte.
Nach dem reichlichen Abendessen wickelten die anderen sich in ihre Felle und waren bald darauf eingeschlafen, aber Jason blieb wach, obwohl er von der langen Fahrt und von dem vielen Essen ebenso müde war. Er beschrieb große Kreise um das Lager, bis die Nachtkälte ihn zu dem noch immer heißen Kessel zurücktrieb. Als ein Stern, den er von Zeit zu Zeit beobachtet hatte, den Zenit erreichte, schätzte Jason, daß nun Mitternacht bereits vorüber sein mußte. Er ging zu Mikah hinüber und schüttelte ihn wach.
„Jetzt bist du an der Reihe. Sieh dich vor und vergiß unseren Freund dort drüben nicht“, Jason wies mit dem Daumen auf den schlafenden Snarbi. „Du kannst mich jederzeit aufwecken, wenn dir etwas verdächtig erscheint.“
Jason schlief sofort ein und wachte erst wieder auf, als die Sonne bereits hoch über dem Horizont stand. Als er sich umsah, bemerkte er neben sich zwei weitere Gestalten, die noch schliefen. Eine von ihnen bewegte sich, und Jason stellte fest, daß dort Mikah lag.
Er sprang auf, lief zu Mikah hinüber und rüttelte ihn wach. „Wieso schläfst du hier? Du hast doch Wache!“
Mikah schlug die Augen auf und sah Jason gelassen an. „Ich hatte Wache, aber gegen Morgen wachte Snarbi auf und wollte mich wie immer ablösen. Ich sah keinen Grund, warum ich ihn abweisen sollte.“
„Du hattest keinen Grund? Obwohl ich dir alles genau erklärt habe…?“
„Eben deshalb. Ich kann nicht zulassen, daß ein Unschuldiger verurteilt wird, denn sonst wäre ich meinen Prinzipien untreu geworden. Deshalb habe ich ihm die Wache übergeben.“
„Du hast ihn auf Wache gehen lassen!“ stieß Jason wütend hervor. „Und wo ist er jetzt? Siehst du ihn irgendwo?“
Mikah sah sich langsam um und stellte fest, daß tatsächlich nur noch drei Menschen zu sehen waren — Jason, Ijale und er selbst. „Er scheint verschwunden zu sein. Damit hat er sich als unzuverlässig erwiesen und darf in Zukunft nicht mehr Wache stehen.“
Jason wollte ihm schon einen Tritt versetzen, überlegte aber, daß ihnen keine Zeit für derartige Vergnügungen blieb, und rannte auf das Dampfmobil zu. Diesmal funktionierte das primitive Fahrzeug zur Abwechslung schon beim erstenmal und setzte den Brennstoff in der Feuerung sofort in Brand. Die Flamme röhrte vielversprechend, aber als Jason mit dem Knöchel gegen das Schauglas klopfte, sah er, daß fast kein Brennstoff mehr vorhanden war. In dem letzten Krug mußte noch genügend sein, um sie in Sicherheit zu bringen, bevor Snarbi wieder erschien — aber der Krug war verschwunden.
„Jetzt haben wir es geschafft“, stellte Jason fest, nachdem er überall nach dem verschwundenen Krug gesucht hatte. Snarbi hatte offenbar das Feuerwasser mitgenommen, denn er hatte Jason lange genug beobachtet, um zu wissen, daß der caro nicht fahren konnte, wenn man ihm nicht diese Flüssigkeit in den Hals goß.
Jasons Zorn verwandelte sich allmählich in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Er überlegte, daß er Mikah nicht hätte trauen dürfen, nachdem es sich hier um ein ethisches Problem gehandelt hatte. Er starrte zu dem anderen hinüber, der ruhig ein Stück kalten Braten verzehrte, und bewunderte die Ruhe, die dieser Mann ausstrahlte.
„Stört es dich eigentlich gar nicht, daß du es glücklich geschafft hast, aus uns allen wieder Sklaven zu machen?“ wollte Jason wissen.
„Ich habe nur das getan, was recht war. Ich hatte keine andere Wahl. Wir müssen als moralische Wesen leben oder auf den Stand von Tieren herabsinken.“
„Aber wenn man unter Menschen leben muß, die sich wie Tiere benehmen — wie überlebt man unter solchen Umständen?“
„Man lebt wie sie — wie du, Jason“, antwortete Mikah überlegen lächelnd. „Man windet und krümmt sich vor Angst, ohne seinem Schicksal entkommen zu können, selbst wenn man alle Kräfte anstrengt. Oder man lebt, wie ich es getan habe, als Mensch mit Überzeugung, der weiß, daß er recht gehandelt hat, als er sich nicht durch die Erfordernisse der Stunde von dem als richtig erkannten Weg abbringen ließ. Und wenn man so lebt, kann man glücklich sterben.“
„Dann stirb glücklich!“ rief Jason zornig und griff nach seinem Schwert. Aber dann ließ er sich nieder, ohne es aufgenommen zu haben. „Wie bin ich eigentlich jemals auf den verrückten Gedanken gekommen, ich könnte dir etwas über die Wirklichkeit beibringen, obwohl du immer nur in deiner Scheinwelt gelebt hast? Du lebst nur von deinen Überzeugungen, die unerschütterlicher sind als der felsige Boden, auf dem wir hier sitzen.“
„Endlich einmal sind wir einer Meinung, Jason. Ich habe versucht, dir die Augen zu öffnen, damit du die Wahrheit erkennst, aber du willst blind bleiben um eines augenblicklichen Vorteils willen und bist deshalb für immer verdammt.“
Der Druckmesser an dem Kessel zischte, als die grüne Scheibe nach oben zeigte, aber der Brennstoffvorrat war fast erschöpft.
„Nimm etwas Essen zum Frühstück mit, Ijale“, sagte Jason, „und sieh zu, daß du von der Maschine fortkommst. Der Brennstoff ist zu Ende, wir können nicht mehr fahren.“
„Ich werde ein Bündel zusammenpacken, damit wir zu Fuß fliehen können.“
„Nein, das kommt nicht in Frage. Snarbi kennt die Gegend hier und weiß genau, daß wir seine Abwesenheit bei Tagesanbruch entdeckt haben müssen. Er ist bestimmt schon längst wieder auf dem Weg hierher und würde uns sofort verfolgen lassen. Deshalb sparen wir uns die unnütze Kraftvergeudung lieber. Aber meinen schönen caro sollen sie auch nicht haben!“ fügte er plötzlich wütend hinzu und nahm die Armbrust auf. „Alles zurück, weit zurück! Wenn sie schon einen Sklaven aus mir machen, brauchen sie mein Meisterstück nicht auch noch in die schmutzigen Hände zu bekommen. Wer ein Fahrzeug dieser Art will, soll wenigstens dafür bezahlen!“
Jason zog sich fünfzig Meter weit von dem caro zurück und spannte die Armbrust. Der dritte Bolzen traf den Kessel, der mit Donnergetöse in die Luft flog. Überall regnete es Metalltrümmer und Holzstücke. Aus der Ferne erklang Hundegebell, in das sich menschliche Stimmen mischten.
Als Jason wieder aufstand, sah er eine Gruppe von Männern, die, von großen Hunden geführt, auf das Lager zukamen. Obwohl sie bereits einige Stunden lang unterwegs sein mußten, kamen sie im Dauerlauf näher — gut trainierte Läufer in dünner Lederkleidung und mit einem kurzen Bogen, zu dem ein Köcher voller Pfeile gehörte. Sie bildeten einen weiten Halbkreis um die Fremden, legten Pfeile auf die Sehnen und warteten, bis Snarbi heran war, der von zwei Läufern mehr getragen als gestützt wurde.
„Ihr gehört jetzt… dem Hertug Persson… und seid seine Sklaven…“, keuchte Snarbi. Er schien zu erschöpft, um seine Umgebung wahrzunehmen. „Was ist mit dem caro geschehen?“ stieß er dann aber doch entsetzt hervor, als er die rauchenden Trümmer bemerkte, und wäre zusammengesunken, wenn die beiden Läufer ihn nicht gestützt hätten. Offenbar waren die Sklaven weniger wert, wenn ihre Maschine nicht mehr funktionierte.