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Während das Haus, in dem unsere Großeltern gelebt hatten, nahezu unverändert geblieben war, war der Schuppen nicht mehr vorhanden. Die Wiese stand hoch, Brombeergestrüpp bildete unbetretbare Inseln, Brennesseln wuchsen am Haus. Auf der Wiese war alles abgetragen und überwuchert. Kein Brett, kein einziger Ziegel mehr.

Ich wickelte das Kreuz aus dem Vorhang, zeigte es Clara vor, die es mit kritischem Finger berührte. Justyna lief nach einem Spaten. Ihr Mann war nicht aufgetaucht. Sidonia bahnte sich einen Weg durch das Gras.

Wir irrten eine Weile durch den Garten. Der Lageplan erwies sich als nutzlos. Die Entfernungen waren falsch nachempfunden, die eine Seite des Grundstücks schien nur halb so lang zu sein, wie Tante Sidonia angegeben hatte, auf der anderen ging der Zaun dafür doppelt so weit. Es blieb unklar, ob sich das Grab eher gegen das eine oder das andere Ende des Zauns hin befand, ob es diesseits oder jenseits des Schuppens gelegen hatte und auf welcher Höhe überhaupt.

Sie selbst war sich jetzt, vor Ort, nicht mehr sicher. Ihre Absicht war gewesen, das Kreuz im Schutz der Schuppenwand aufzustellen. Nun sah ich an ihren abgehackten Bewegungen, wie sie allmählich in Panik geriet.

Warum nicht hier am Zaun, schlug Clara vor, und Sidonia bedachte sie mit einem wütenden Blick. Man würde den Kreuzstab von weitem für eine Zaunlatte halten.

Ewentualnie tutaj, empfahl Justyna, hier habe es früher eine leichte Kuhle gegeben, die sie später mit Ziegelschutt aufgefüllt hätten, dort sei ehemals vielleicht etwas abgesackt.

Mitten auf der Wiese, befand Sidonia entgeistert. Hier spielen doch Kinder!

Am Zaun trat meine Schwester auf weißliche Früchte, die sich im Staub krümmten, und hob den Kopf zu einigen Maulbeeren, die noch an den Zweigen hingen. Verstohlen pflückten wir ein paar ab. Sie lagen in meiner Hand wie fettgefressene Maden und schmeckten süß und fade. Chinesisch, fand Mila. Es waren die ersten Maulbeeren, die wir je aßen.

Der Maulbeerbaum stand noch, dem Nachbarhaus fehlte das Dach. Meine Schwester trödelte unter den Maulbeerzweigen, ich verlor mich im Gestrüpp. Ließ den Blick über die jungen Pappeln schweifen, die sich aus den Büschen erhoben, glitt an dornigen Ranken entlang, hielt inne an einem verschatteten Stück des Gartens, wo der Zaun schief hing und teilweise ganz umgefallen war. Dahinter nur die Leere der Landschaft.

Hinter dem Grundstück bog ein Wirtschaftsweg ins Feld. Meine Schwester spazierte diesen Weg entlang, pflückte Blumen, als ginge sie das alles nichts an. Ich ärgerte mich über dieses ungerührte Blumenpflücken, und ich hoffte, daß sie nicht auch noch beginnen würde, Kränze zu winden. Sie schlenderte demonstrativ gelassen zurück, den Blumenstrauß im Arm, wippenden Rockes, sie scharrte mit dem Absatz zwischen den Brennesseln und förderte einen Kronkorken zutage. Der ist nicht von uns, sagte ich wütend, und meine Schwester ließ den Strauß nachlässig, als würfe sie ihn weg, zwischen die Brennesseln fallen, und ich ärgerte mich noch mehr, daß sie nicht einmal imstande war, ihn dort ordentlich niederzulegen.

Die anderen hatten sich inzwischen auf eine Stelle direkt an der Hauswand geeinigt.

Man sieht es gut, bemerkte Sidonia zufrieden, und hier stört es nicht.

Ich überließ Justyna den geblümten Vorhang und übernahm den Spaten, ich benutzte den Gummihammer, ich häufte einen kleinen Erdhügel um den Balken aus Lindenholz.

Sobald das Kreuz installiert war, drängte unsere Tante zum Aufbruch.

Sie bat Clara, uns zur Kirche sowie zur Schule zu führen. An diese Wege konnte sie selbst sich plötzlich nicht mehr erinnern. Clara sprach über ihr Fußleiden, das sie hinderte, Schuhe zu tragen. Sie könne laufen, aber nur in Pantoffeln. Unsere Tante antwortete ihr unkonzentriert. Sie rekapitulierte, wer in den Häusern, an denen wir vorbeikamen, gewohnt hatte, sie teilte uns eine Reihe von Namen mit, die Mila und mir nichts sagten.

Die Schule war kürzlich mit einem postgelben Anstrich versehen worden und besaß keinerlei Charme. Es konnte eine beliebige Schule sein. Ob mein Großvater hier ein- und ausgegangen war, ließ mich erschreckend kalt. Der Anstrich war scheußlich, und ich wußte, daß er auch Tante Sidonia nicht gefiel. Lieber wäre mir gewesen, wir hätten die Schule gar nicht erst aufgesucht.

Da ist doch nichts, sagte meine Schwester am Abend in der Gaststätte, wo wir inmitten der Reisegruppe aufgerollte Pfannkuchen mit Pilzfüllung aßen, da ist doch nichts mehr. Oder dort ist nie etwas gewesen. Man könne genausogut bei uns den Bahndamm betrachten, da fehle nur der Maulbeerbaum, aber ansonsten sehe man doch keinen Unterschied.

Wir hatten uns aus diesen Bildern neu zusammensetzen wollen; mit den Bildern eines alten Hauses, eines Gartens, einer Familienumgebung die Vision einer Zukunft grundlegen, hatten eine Vergangenheit herstellen wollen, die uns dabei hätte helfen können, Ziele zu verfolgen; statt dessen erloschen die Vorstellungen, die wir uns bereits gemacht hatten, sie wurden überdeckt von einer endlos langen Busfahrt, wir fuhren über Landstraßen mit einsamen Tankstellen, Straßen mit Floristenständen am Rand, die aus einem Eimer voll Feld- und Gartenblumen bestanden, wir parkten auf geschotterten Brachflächen, wir sahen Störche, Porzellanköpfe an den Strommasten, Schwalben, aber stets nur durch eine schmierige Scheibe, und wenn wir ausstiegen, verschwanden die Scheiben nicht. Der Himmel blieb bedeckt, die Luft blieb faules Blumenwasser, unser Handeln blieb dem anderen jeweils verdächtig.

Ich stieg aus dem Reisebus und sah ein ganzes Stück vor mir meine Schwester gehen. Meine Schwester ging wie eine große Staubflocke, die sich äußerst gemessen bewegt, damit sie die Fülle nicht verliert, das luftig Aufgebauschte, das mottengrau Elegante.

Sie trödelte vor sich hin, trödelte den holprigen Bürgersteig entlang, aber bevor ich sie eingeholt hatte, zwängte sie sich in ein Gebäude, das etwas zurück lag und mit einem rudimentären Bauzaun gesichert war.

Mila betrat durch ein schlecht vernageltes, bodentiefes Fenster einen ausgeschlachteten Lebensmittelladen. Ich sah sie in den Laden einsteigen, eilte hinter ihr her, aber die Lücke war etwas eng für mich, und so wartete ich vor der Öffnung, stand möglichst unauffällig neben den schiefen Brettern stramm, ohne den Innenraum aus den Augen zu lassen. Der Linoleumbelag, überall aufgerissen, zackte hoch wie eine zerfetzte Wiese. Die Klappe des Kachelofens hing nur noch an einer Angel. Leitungen senkten sich, Stalaktiten, aus dem Deckengebälk. Die komplette Einrichtung war ausgeräumt, aber weit oben an den Wänden klebten noch animierende Bilder von früher, auf Servierplatten fotografierte Vorspeisen, aufgeschnittene Bratenscheiben, eine Backform mit Kuchenzutaten. Ein stilisierter Schneekristall auf eisblauem Grund bildete einen Teller für Tiefkühlgemüse, schön dekorierte Eiersalate ruhten in goldgerandeten Schalen; Serviervorschläge für Waren, die man womöglich nicht immer im Geschäft vorrätig hatte und deren generelles Vorkommen sich so beweisen ließ. Diese Nicht-Reklamen zogen unter der Decke einen Fries, immer wieder unterbrochen von lustigen Figuren, einem Bäcker, einer Köchin, die die Arme in die Seite stemmte. Eiskristalle, auf Plastikfolien gedruckt, vervielfältigten sich zu einem Kachelmuster, einem abwaschbaren Tapetenstück. Mila trat über knirschende Putzbrösel, löste eine solche Frostflocke ab, versenkte sie in ihrer Tasche.

Ich räusperte mich, meine Schwester fuhr herum, bleich, und als sie mich sah, verzog sie den Mund.

Wir machen uns hier unmöglich, sagte ich trotzdem, ich sagte es nur vor mich hin, ich murmelte es in mich hinein, und Mila schoß auf ihrem Rückweg Stücke von dem Bodengeröll über die Zackenwiese, sie schoß ohne Spannkraft, doch das Rumpeln und Rutschen übertönte mich.

Ist Labilität eigentlich ein Vorzug? fragte ich mich laut, fragte ich sie, aber Mila kletterte nur stumm auf die Straße zurück.