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Am nächsten Tag begleitete ich Tante Sidonia inmitten der anderen Heimwehtouristen auf die Schneekoppe, während meine Schwester auf dem Hotelbalkon saß, der auf den Marktplatz ging, eine polnische Modezeitschrift durchblätterte, sich die Nägel mit polnischem Nagellack bestrich.

Als wir zurückkamen, saß sie immer noch im eisernen Korb des Balkongitters, neben sich ein Glas, das zu einem Drittel mit Kaffeesatz gefüllt war, und sie war dabei, einen Kleiderbügel aus dem Hotelzimmer zu umhäkeln. Die Bügel im Kleiderschrank waren aus Holz, auf einzelnen stand noch der Name einer Schneiderei aus der Vorkriegszeit. Sie häkelte Ringel, sie häkelte eckige Blüten. Draußen stand die Landschaft in ihrer vollen Pracht.

Ich rückte mir einen Stuhl heran, beobachtete, wie der Faden zwischen ihren Fingern weiterlief. Meine Schwester lauschte auf die Satzfetzen vom Nachbarbalkon.

Und nun, sagte sie dann, und während sie mit dem gepolsterten Bügel auf mein Knie klopfte, nahm sie den strengen, leicht mürrischen Ausdruck Tante Sidonias an, und nun, fühlen wir uns zu Hause?

Ich schilderte ihr die Aussicht vom höchsten Punkt des Riesengebirges, ich stellte kämpferisch die These auf, daß sie den Höhepunkt der Reise verpaßt hatte.

Meine Schwester interessierte sich nicht für die Aussicht. Patzig rührte sie ihren Kaffeesatz um.

Meine schreckliche Schwester war schon wieder mit sich beschäftigt. Sie war mit etwas ganz anderem beschäftigt, denke ich jetzt, ich wußte damals nicht, womit.

22 Wasserspeier

Ich bilde mir ein, daß meine Schwester den Eindruck zurückbehielt, etwas versäumt zu haben, und daß sich dieses Gefühl mit der Zeit verstärkte.

Ein Gefühl von verpaßten Anschlüssen, etwas Drückendes, die dumpfe Ahnung, nicht zu genügen, der Drang, etwas erneuern, wiederherstellen, wiederholen zu müssen, nur was? Was trieb meine Schwester um, was hätte sie veranlassen können, noch einmal in diese Gegend zu fahren, diesmal mit ihm?

Duszniki-Zdrój. Es hatte getaut, taute, würde weitertauen. Der ganze Ort lag in Rost und Schwefel. Schnee suppte auf den Wegen, die Eiszapfen an den Dachrinnen tropften, und während vorher der Schnee alles ausgefüllt hatte, breitete sich jetzt eine Leere aus, die man nur als abgewandt bezeichnen konnte, eine Leere, die allem den Rücken kehrte, die keine Erwartungen schürte, eine Leere ohne Versprechen, ohne Potential. Ein kalter Wind blies aus Skandinavien, er erweckte keine Ahnungen, es war ein Wind, der das, was er berührte, abstumpfte.

Sie gingen langsam und angespannt über den aufgeweichten Pfad im Kurpark, den Körper gegen den Wind versteift. Mila hielt den Mantelaufschlag über der Brust zusammen. Sie hatte den Pelzkragen aufgestellt und hob unnatürlich die Füße bei jedem Schritt, als könne sie so ihre Wildlederschuhe vor dem Schmutz schützen. Odilo ging achtlos, fast verächtlich gegen seine Umgebung. Er trug helle, allzu helle Hosen, deren Rückseite bis zu den Kniekehlen von Schlammspritzern gesprenkelt war. Er bemerkte es nicht, auch Mila sah es nicht, sie ging bei ihm eingehakt, in einer erzwungenen Langsamkeit, als wolle sie mit diesem Schlendertempo die Illusion eines Sommertags erzeugen. Über dem Ort hing der Geruch von qualmender Holzkohle und einem Linsengericht, als werde in allen Küchen ausnahmslos dieses eine starkschmeckende Gericht zubereitet. Etwas schlecht Gelüftetes, über das Odilo die Nase rümpfte, zeichnete diesen Ort aus, etwas Feuchtes und Stickiges, obgleich man sich im Freien befand, es war ein Ort, an dem sich die Gerüche über Jahre und Jahrzehnte hielten, an dem die frische Luft seit Jahrhunderten nicht ausgetauscht schien.

Diese Luft hatte 1826 schon Frédéric Chopin geatmet, als er noch Fryderyk hieß, sich hier mit Mutter und Schwester zur Kur aufhielt und sein erstes Konzert außerhalb der Grenzen von Polen gab, ein Wohltätigkeitskonzert, Mendelssohn hatte sie geatmet, und jetzt atmete Mila sie, Komponistenatem vermischt mit den Dünsten von Linsensuppe und rostigem Rohr.

In der Dämmerung betraten sie den Kurpavillon. Sie waren die einzigen Gäste. Der Pavillon lag in einem trüben gelben Licht wie von Heizkissen und Rheumadecken, das sie schlafwandlerisch durchschritten. In der Trinkhalle saß eine Frau mit Krankenschwesterhaube hinter einer Schulbank und verkaufte daumengroße Plastikbecher. Mila reichte ihr eine Fünfzigermünze und erhielt zwei Becherchen. Sie standen damit eine Weile unschlüssig vor dem Brunnen. Das arsenhaltige Wasser floß stoßweise aus einem dünnen Röhrchen, es wehte sie etwas Fauliges von diesem Brunnen an. Sie hielten ihre Becher in den Strahl.

Odilo wäre lieber nach Karlsbad gefahren, nach Marienbad, Goethes wegen. Mila wollte hierher, Chopins wegen. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der Ort zu den bedeutendsten Herzheilbädern Europas. Dann war er aus der Mode gekommen. Und jetzt, im Winter, blieben die Kurgäste ohnehin aus.

Odilo fühlte sich unwohl in dieser Umgebung der Mineralmoore und des Glimmerschiefers, der Gefäßkrankheiten und Frauenleiden. Er glaubte alle Unpäßlichkeiten auf sich zu ziehen. Zog die Schultern hoch, wenn sie in die Nähe anderer Leute gerieten, zuckte überempfindlich mit dem rechten Lid, fürchtete sich vor Bazillen, vor Dummheit, vor Unbequemlichkeit.

Er ertrug den Geruch nicht: die Kohleöfen und die süßlichen Zweitakterabgase, die deftigen Essensgerüche; dazu der metallische Geruch des Schnees, das frisch gesägte Holz, der übelkeiterregende Geruch des Stahlsprudels.

Sie waren allein in der frühen Winterdunkelheit, die kaschiert wurde vom Schwefellicht, sie fühlten sich vielmehr allein, denn die Becherverkäuferin saß mit einem Strickzeug hinter ihrem Tisch und gab sich abwesend. Aus der Tiefe des Kurparks näherte sich eine Wolke aus Lärm und Geschrei. Eine Gruppe Grundschulkinder wurde im Restlicht, das in den Park fiel, sichtbar, sie tauchten paarweise auf, einander an den Händen haltend, und sie wurden schlagartig ruhig, als sie die Schwelle zum Brunnenraum überschritten, als beträten sie, vorweg die Lehrerin im strammen Ausflugsschritt, ein Kirchenschiff.

Die Becherverkäuferin legte ihr Strickzeug zur Seite. Einzelne Kinder kosteten vom Arsenwasser; es schmeckte ihnen nicht, und sie zogen eigene, süßere Getränke aus ihren bunten Rucksäcken. Sie kauten Kaugummi und saure Schnüre, verloren bald die Ehrfurcht, sprachen lauter, sprachen ihr kindliches Polnisch mit einem Zuckerhauch.

Odilo beobachtete die Kinder mit Mißtrauen. Sie waren dick eingepackt in Pudelmützen, in Schals, in wattierte Jacken, die ihre Bewegungen ein wenig roboterhaft machten. Ein Mädchen hatte mit klebrigen Fingern versehentlich seine Hand gestreift, als es sich einen Weg bahnte zum Brunnen, dort versuchte, in der hohlen Hand den Wasserstrahl aufzufangen. Odilo war zurückgezuckt, dann von Mila sanft zur Seite gezogen worden, bis die Kinder sich wieder zerstreut hatten.

Odilo spielte nervös mit dem Becher, rollte ihn zwischen den Handflächen, ließ die Wände im Zangengriff gegeneinander federn. Mit einem Knacken zerdrückte er das Gefäß. Wasser tropfte von seinem Handgelenk auf den Boden, vergeudetes Heilwasser, das sich mit den schmutzigen Fußabdrücken der Gäste, mit Schneematsch vermischte; das nun erneut eingespeist würde in den langen Prozeß des Sinterns.

Er ließ die Plastiktrümmer in den Brunnen fallen, wo sie stockend bis zum Abfluß trudelten, dort immer wieder aufzuckten, zur Rotation ansetzten, aber eine Drehung um die eigene Achse nicht schafften.

Odilo steckte die nasse Hand in die Hosentasche, die andere legte er um Milas Schulter, sie traten Arm in Arm zurück in den Wind.

Draußen beständiges Tropfen. Es tropfte von den Dachrinnen und Ästen, von Bänken und Papierkörben. Die Eiszapfen lösten sich auf, es tropfte von gestrickten Pulswärmern, Capes und Schals, die ganze Atmosphäre aus Topflappen- und Lehnstuhlgemütlichkeit tropfte auf die Holzstöße hinter den Häusern, während in den Pflanzen bereits die Säfte stiegen. Gegenläufige Nässe: Odilo gefiel es hier nicht. Er hatte sich lange geweigert, den Osten Europas zur Kenntnis zu nehmen. Sich schließlich eingelassen auf Chopin. Mit so viel Wasser hatte er nicht gerechnet.