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Sein Schädel pochte. Jedes einzelne Tropfgeräusch fiel hämmernd in seinen Kopf, hallte wider, und während es beim Aufprall kurz und heftig klopfte, verursachte der Nachhall einen langgezogenen Schmerz.

Er klammerte sich an Milas Arm und stolperte über aufgeweichte, schlecht beleuchtete Wege. Zu den Seiten Schneehügel, achtlos aufgehäuft und unter harschen Krusten vollgesogen mit Wasser. Die Parkwiesen voller weißer Flecken. Unbekannte Gebiete auf altem Kartenmaterial, aus der Zeit gefallenes Gelände. Hic sunt leones.

Er starrte auf den Boden, auf den blinden Schneespiegel, der ihm zu hell war, den Kopfschmerz verstärkte. Er mußte sich zurückziehen, die Reizüberflutung eindämmen.

Ihm schien, daß sich alles beschleunigte, die Erde immer schneller rotierte, Tag und Nacht ein unmäßiges Flackern, die Jahreszeiten fiebrige Schauer auf seiner Haut.

Getilgte Bilder des Winters, aufgefressenes Gelände. Aus der löwenköpfigen Leere rieselte das Wasser, der ganze Ort ein Löwenmaul, das Wasser spie.

Eine Woche zuvor hatte er noch bei Nieselregen auf der Domplatte innegehalten, sehr weit oben an den gotischen Streben die langgestreckten Schweinemänner mehr geahnt als gesehen, die geifernden Hundsdrachen mit angelegten Flügeln, die spiralhornigen Ziegenböcke mit Nixenschwänzen, und er hatte sich sofort selbst als Mischwesen gefühlt, aus fragwürdigen Hälften oder Vierteln zusammengesetzt. Der feine Regen fiel ihm ins Gesicht, die Chimären hockten hoch oben am Dom, das Maul über der Stadt geöffnet, unbewegt, stumm. Der Regen vom Domdach lief nicht mehr durch ihre Kehle, er rann im Verborgenen herab, in verdeckten Rinnen, daß er den Besuchern nicht vor die Füße plätscherte, nicht in dicken Strahlen aus großer Höhe auf dem Platz zerspritzte, dem Besucher nicht von unten in die Kleider fuhr. Nicht mehr sollte das Dämonische abgehalten werden vom Gotteshaus, sondern vom unbedarften Passanten, der an das Dämonische nicht mehr glaubte, nur noch an Lästiges, Unbequemes.

Von den Wasserspeiern wurde einstmals erwartet, daß sie die Bewegung des Regens bündelten. Mit ihrer Häßlichkeit leiteten sie Blitze ab, mit ihrer Monstrosität dirigierten sie den Donner, schickten die Wolkenungetüme auf andere Wege abseits der Stadt — und war nicht der Kölner Dom sogar aus Bombenhageln unversehrt hervorgegangen, ihretwegen?

Heutzutage ging nur noch Wind über sie hinweg, der Verlauf des Wetters wurde von ihnen nicht länger reguliert, heutzutage gab es die Vorhersagen, die Strömungsbilder im Fernsehen, die allerdings nur vorgriffen, nicht eingriffen. Odilo glaubte dennoch daran, mit der Vorhersage über das Wetter verfügen zu können, und plötzlich hatte er sich auf die Tage mit Mila gefreut, zu hoffen gewagt, daß ihn die Körperkonfusion dann für eine Weile verließe, weil Mila ihn in eine Art Natürlichkeit hineinzuziehen, sein grundsätzliches Unwohlsein zu lindern vermochte.

Aber jetzt umfloß es seine Schuhe in Rinnsalen, als habe er selbst das ganze Wasser hohlmäulig ausgespuckt.

Am nächsten Tag ging er nicht aus, schützte Migräne vor. Mila schloß sorgsam die Perlknöpfe ihrer wollweißen Strickweste, zog den Mantel an, nahm die cremefarbene Handtasche über den Arm.

Mila ging durch die schneeverwischten Stellen im Park zum Brunnenhaus. Ging durch die weißgefleckte Landkarte, Arbeit an der Quelle zu leisten, ein vages Schuldgefühl dadurch abzubauen. Sie flüsterte die polnische Bezeichnung vor sich hin — pijalnia —, schreckte ein Taubenpaar auf, das auf nacktem Ast döste, dann mit synchronen Wendungen der Köpfe sein Gefieder putzte. Sie fühlte sich immer beschädigter, je näher sie kam. Trinkkur. Erinnerungskur.

Sie verspürte eine seltsame Begierde diesem Ort gegenüber, sie verspürte ein Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen, die Last seiner Geschichte zu schultern. Sie ging hoheitlich in ihren Altfrauenkleidern, als verkörperte sie eine Vergangenheit, die sich außer ihr niemand zurückwünschte.

Müde Attraktionen der brachliegenden Tourismusindustrie. Eine dumpf riechende Kirche, bestehend aus Wachsflecken, schmelzenden Kerzen, verformten Votivgaben aus Wachs. Eingefaßte und überdachte Rinnsale. Wandelhallen, bevölkert von Kindergruppen aus einer mißlungenen, schneelosen Winterfreizeit.

Auf den Straßen alte Leute, die bereits begannen, ihre Rückseite zu vernachlässigen. Ein Mann, dem das Taschentuch aus der zerbeulten Hosentasche hing. Eine Frau, vorne gut gekämmt, die Haare am Hinterkopf nicht frisiert. Mila ging hinter ihr her, sah direkt auf die kahle Stelle in den schütteren Dauerwellen, die noch flachgelegen waren von der Nacht.

Sie hatte sich erhofft, die Musik Chopins schwebe lautlos in den Straßen, wenigstens eine Ahnung, ein Hauch. Aber es gelang ihr nicht, sich auf Chopin zu konzentrieren, nicht einmal, sich sein Regentropfen-Prélude in Erinnerung zu rufen.

Statt dessen Löwenchöre: Hic sunt leones. Die Schneehaufen am Wegrand waren nur unwesentlich geschrumpft, überall rann und rieselte es, Gesang der Löwen, Gähnen und Brüllen der Löwen, Knurren und Schnurren, ihre unaufhörlichen Katzengeräusche, ihre großangelegte Katzensprache, die sich im Tropfen und Rauschen fortsetzte; eine Warnung, nicht zu nahe zu treten. Nicht versehentlich in diese Auflösung zu geraten, die sich überall ausbreitete, sich heimlich in den Dingen fortsetzte, in den Schaukeln und Turnstangen auf dem Spielplatz, die ihre Konsistenz nur vortäuschten. In der Rutsche aus verblichenen Kunststoffteilen. Dem alten Kletterglobus aus Metallstangen in den Primärfarben. Dem vergessenen Gurkeneimer im Sand. Niemand spielte hier. Alles war naß.

Es taute draußen. Taute demonstrativ. Der kalte Krieg war vorbei. Es gab einen Reiseboom in die Landstriche in Europas Osten, in denen man die verlorenen Zeiten wiederzufinden hoffte. Dieser Kurort lag ganz in der Nähe des Ortes, in dem ihr Vater geboren war. Hier war Tante Sidonia aufgewachsen, hier hatte das Großelternpaar gelebt, das aus der Familienbilanz hatte herausgerechnet werden müssen.

Mila hatte sich vorgestellt, in dieser Gegend etwas zu finden, eine Stimmung, einen Anblick, Gründe vielleicht für ihr ständiges Unbehagen, das der neugewonnene Frieden nur neuerlich in sie einfließen ließ. Es durchsickerte Generation um Generation: ein unscharfes Schuldgefühl, eine nagende Unruhe, die sich auf nichts zurückführen ließ. Jetzt war sie an der Reihe, Erinnerungen zu bergen und zu tilgen, mit den Versehrungen zurechtzukommen. Aber ihr war ja nichts geschehen. Niemand hatte ihr jemals ein Haar gekrümmt, und es war unredlich, sich beeinträchtigt zu fühlen.

Sie wanderte durch zerfließende Wege zur Papiermühle, zur Sommerrodelbahn. Ging am Nachmittag durch Rinnsale und Sturzbäche zu ihrer Unterkunft zurück, stopfte Zeitungspapier in die Schuhe, hängte die Strümpfe über die Heizung, stellte sich unter die glühendheiße Dusche, bis sie krebsrot angelaufen war.

Nachts schien es ihr, als fahre sie fort, im Dunkeln zu tappen, im Trüben zu fischen, sie sah Wasserspeier vor sich, die das Wetter von damals erbrachen, sie sah ein unruhiges Glitzern, aber es gelang ihr nicht, dieses Geglitzer zu einem Bild zusammenzufügen.

Sie ließ die Hand über den Rand des Bettgestells hängen, hielt in der Faust einen von Odilos Schnürsenkeln, hielt daran wie ein Kleinkind auch im Schlaf noch fest. Er zog sein anderes Paar Schuhe an und ging leise hinaus.

Er ertrug es nicht, neben ihr zu liegen, wenn sie schlief. Sie schien sich ihm dann entzogen zu haben, sie war weit entfernt, seinem Einfluß nicht zugänglich.

In der ersten Nacht hatte er sie mehrmals geweckt. Er sagte nicht, daß es ihn verrückt machte, wenn sie ihn allein ließ, schlafend. Er legte sich dicht zu ihr, er hatte sie wachgeküßt, und er küßte sie kurz darauf wieder wach.