Jetzt hatte es einer von ihnen, Kurt Koch wußte nicht wie, geschafft, sich hochzukatapultieren und die Wand des Putzeimers zu überwinden. Er hatte sich unter die Spüle geflüchtet und sich dort, hinter dem Vorhang, zwischen den Putzmitteln versteckt, ein Gewohnheitstier, dachte Kurt lächelnd. Es gelang ihm nicht, ihn wieder einzufangen, und er setzte ihm in zwei Untertellern trockene Maiskörner und Wasser hin.
Der freilaufende Hamster nagte alles an. Kurt Koch stellte seine Schuhe hoch. Rollte den Teppich ein und brachte ihn in den Keller. Hängte den Staubsauber in einer gewissen Höhe auf. Mit den eckigen Plastikkästen baute er eine Mauer um seinen Wohnzimmerschrank. An seinen Zimmerpflanzen hing er nicht. Sie waren, las er nach, nicht giftig. Sie verschwanden über Nacht.
Nach drei Monaten fand er das Muttertier aus dem Park tot im Käfig. Er fühlte sich schuldig, wußte aber nicht, was er falsch gemacht hatte. Er wußte nicht, wie alt Hamster werden. Er wußte nicht, wohin mit dem Kadaver. Meinte, etwas vom Abdecker gehört zu haben, dem so ein Haustier nach Beendigung des Lebens abzugeben war. Tote Haustiere nur beim Tierarzt entsorgen, raunte es in ihm, niemals in den Hausmüll, auch nicht einfach irgendwo eingraben, Tierfriedhof allenfalls, raunte es, aber auch das würde Gebühren kosten. Er legte das tote Weibchen auf Holzwolle in einen Schuhkarton und stellte ihn vorläufig irgendwo ab. Er war froh, wenn es ihm gelang, in Zukunft das Futter für die immer noch wachsende Schar zu bezahlen. Dreihundert Hamster versorgte er inzwischen. Er bewohnte zwei Zimmer. In jedem Raum, auch in der Küche und im Bad, Dutzende Hamster. Nachts lag er oft wach, weil die Tiere in ihren Behältern tobten. Sie rasten und kletterten. Beschäftigten sich unentwegt mit Flucht. Bissen um sich und fauchten. Bissen einander tot. Die, die entkamen, fraßen sich durch die Fußleisten und schliefen tagsüber in verborgenen Hohlräumen des Gemäuers. Nachts nahmen sie Futtergaben entgegen, verschwanden wieder im Abseits, vermehrten sich dort.
Aus der Wohnung von Kurt Koch begann es zu riechen. Er hatte die Kontrolle über die Population, ihre Kopulationen und Ausscheidungen verloren; der Linoleumboden in der Küche war mit einer dicken Schicht Sägespänen bedeckt. Darin eingegraben lebende und tote Tiere, verlassene Nester, gefüllt mit Spelzen und reiskorngroßem Kot. Die feuchten Stellen trockneten nicht mehr.
Kurt tat noch immer sein Bestes. Er gab sich Mühe, die Versorgung zu gewährleisten, aber er sah nachts nicht mehr gerne, wie sie im Rad liefen, er war erschöpft.
Die Nachbarn bemerkten lange nicht, daß die ersten Goldhamster die Wohnungsgrenzen überwunden hatten. Das nächtliche Rascheln, die Fraß- und Kotspuren führten sie auf Mäuse zurück, Ärgernis genug. Aber eines Morgens fand Frau Schulze einen Hamster in der Mausefalle.
Als das Tierschutzamt kam, war er ehrlich gekränkt. Er hatte sich eingeschränkt. Hatte getan, was er konnte. Nun wurde ihm bedeutet, er habe auf ganzer Linie versagt.
Einstreupackungen stapelten sich die Wand hoch. An vielen Stellen war die Plastikhülle aufgebissen, die Streu rieselte heraus. Hamster hatten sich Gänge in den Turm gegraben.
Die Wohnung wurde geräumt. Man nahm alle Hamster mit. Schaufelte die Streu weg, riß das zerfetzte Linoleum heraus. Für die Tiere, die sich in den Wänden versteckt hielten, engagierte der Vermieter einen Kammerjäger. Die Möbelböden vollgesogen mit Urin: Auch die Möbel mußten entsorgt werden. Mit den Möbeln verschwand auch der Trockenstrauß. Oben auf dem Wohnzimmerschrank, wo die Hamster nicht hinreichten, hatte er sich gehalten, gänzlich eingestaubt, verschrumpelt und hart. Ein Mitarbeiter vom Amt hob ihn herunter, zog auf dem Weg zu den Müllsäcken schwebende Spinnenfäden hinter sich her.
Die Wolkenformel
Mechthild Pech beschäftigte sich seit frühester Jugend damit, das Phänomen der Wolke in seiner materiellen Dimension zu erfassen. Nachdem sie schon im Kinderwagen den Blick stets in die Höhe gerichtet hatte, dem Flug der flauschigen und majestätischen Gebilde mit besonderer Zuneigung folgend und begeistert speichelnd, wenn Gewitter aufzog, legte sie bald ein imaginäres Raster über den Himmel, das ihr eine Antwort auf folgende Frage ermöglichen sollte: Welches Volumen muß eine Wolke aufweisen, um eine bestimmte Literzahl abzuregnen? Ihr ganzer Ehrgeiz lag darin, Geschwindigkeit, Größe und Wassergehalt unserer flüchtigen Gefährten zu berechnen, um mit Hilfe dieser Angaben die Niederschlagsmengen exakt vorherzusagen.
Mechthild Pech war seit frühester Jugend zu intelligent für ihre Umgebung und erregte schon im Kindergarten den Neid ihrer gleichaltrigen Artgenossen. Die Kinder hänselten sie, schlossen sie von gemeinsamen Spielen aus, weil sie bei Spielen, die zu gewinnen waren, immer gewann, sie nahmen ihr die Malstifte weg und bewarfen sie im Sandkasten mit Sand. Mechthild Pech war schon bald intelligent genug, ihre Mitschüler nichts mehr merken zu lassen. Sie absolvierte die Schulzeit äußerst unauffällig. Sie wandte sich den passenden Jungen zu, sie lief Marathon, sie verfolgte die Eishockeyturniere. Je älter sie wurde, desto mehr trug ihr Äußeres dazu bei, daß sie gut zurechtkam. Mechthild Pech aus Mecklenburg, dunkelhaarig, drahtig, besaß das strenge Gesicht einer musisch und gärtnerisch interessierten Hausfrau, und niemand hätte ihr ein mathematisches Vermögen zugetraut, das über die vergleichende Addition der Posten auf ihrem Einkaufsbon hinausging.
Sie unternahm lange Wanderungen in Windrichtung und richtete ihr Augenmerk darauf, die eigene Schrittgeschwindigkeit mit dem Tempo der schön dahinziehenden Wolken abzugleichen. Unter dem Deckmantel der Unauffälligkeit studierte sie Meteorologie und Geophysik, und es gelang ihr noch im Studium, die diffusen Konturen, die gleichsam eingedellten Volumina, die unterschiedliche Dichte der Wolkengebilde auf eine Formel zu bringen.
Doch man glaubte ihr nicht. Mechthild Pech hatte geforscht ohne Auftrag. Dies galt, bedeutete man ihr, als Spionage. In diesem Land herrschte eine festgelegte Großwetterlage. Hier dominierte der strahlend blaue Himmel der Paraden: Es gab keine Wolken.
Mechthild Pech entdeckte die Wolkenformel und verbrachte den darauffolgenden Lebensabschnitt in den psychiatrischen Anstalten der DDR, wo sie, wie beabsichtigt, den Verstand verlor. Zuerst veränderte sich ihre Haarfarbe über Nacht von schwarz zu blond. Dann entglitt ihr die Herrschaft über ihre Sprechwerkzeuge, sie artikulierte sich nur mehr wie mit geschwollener Zunge. Solange sie sich widersetzte, die Medikamente nicht einnahm, die Pfleger schlug, behandelte man sie in der Isolierzelle. Dort verblieb sie mehrere Monate und berechnete trotzig die Volumina aller Gespenster, die durch die Wände traten. Sobald sie wieder ein Zimmer mit Fenster bewohnte, saß sie im Stupor an der Scheibe und glaubte, sie könne gefälschte Wolken von echten klar unterscheiden. Später ließ sie sich, schon gebrochen, Jahr um Jahr mit Korbflechten beschäftigen, worüber sie ihre Geistesgaben gänzlich einbüßte.
24 Die Arbeit an Gott
Ich bin davon erwacht, daß Küchengerüche in mein Schlafzimmer ziehen. Sie ziehen auf unerfindlichen Wegen aus der Schloßküche im Keller nach oben, ziehen durch die Ritze unter der Tür, es riecht penetrant nach Zwiebeln und Fett. Rührei zum Frühstück: Ich habe nichts gegen Rührei. Aber ich liege noch im Bett, und die Gerüche, scheint mir, kommen zu früh. Sie füllen das Zimmer an und drängen. Ich hingegen weigere mich, schon aufzustehen, nur weil das Küchenpersonal verfrüht beginnt, verfrüht Signale sendet und dann gezwungen ist, stundenlang die Eierspeise warmzuhalten. Was passiert mit meinem eigenen Geruch, vermischt er sich, verflüchtigt er sich, wird der Körpergeruch vom Rührei hinausgedrängt, wird er, fatal, von diesem ersetzt? Von Anfang an konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich bei unserem Schloß um ein geruchsstarkes Gebäude handelt. Ich kann, sage ich mir, noch froh sein, daß es die Küchengerüche sind, die sich in meinem Zimmer sammeln, nicht die Patientengerüche oder die Toilettengerüche.