»Zweifellos hattest du dabei Hilfe.«
»Ich befehle meine Untergebenen, wie du deinen Untergebenen befiehlst«, sagte sie wütend.
»Du bist eine Frau«, sagte er.
»Brinlar, bedien uns!« sagte Yanina noch immer wütend und hob ihren Pokal, ohne mich anzusehen.
»Ja, Herrin«, sagte ich und kam mit dem Krug Kala-na.
»Ist das einer der ›Männer‹, die du gefangen hast?« fragte der Fremde.
Ich schenkte Ka-la-na nach.
»Zumindest vierzehn von ihnen sind wahre Männer«, sagte sie zornig. »Du darfst dich zurückziehen, Brinlar.«
»Ja, Herrin«, sagte ich und kehrte an meinen Platz zurück.
»Weißt du, wo Ragnars Gasthaus an der alten Weststraße liegt?« fragte der Fremde.
»Ja. Ist es nicht geschlossen?«
»Es wird zur Zeit nicht benutzt, obwohl man es hin und wieder öffnet, wenn zu viele Menschen aus Torvaldsland zum Jahrmarkt kommen.«
Vor zwei Jahren hatten die Kaufleute und die Hausbauer die Straße des Cyprianus eröffnet, die nach dem Baumeister des Projektes benannt worden war. Sie führte aus Südwesten zu den Jahrmärkten, was den Verkehr auf der Straße des Clearchus, die aus dem Nordwesten kam, beträchtlich verringert hatte. Das hatte dazu geführt, daß einige der Gasthäuser entweder geschlossen oder umgesiedelt worden waren. Ein Vorteil der südlicheren Strecke lag darin, daß sie durch weniger beschwerliches Gelände führte, das kaum Deckungsmöglichkeiten für Straßenräuber bot. Vor allen Dingen führt sie nicht mehrere Pasang lang durch die Clearchuswälder.
Legenden zufolge war Clearchus ein berühmter Brigant gewesen, der vor etwa zwei Jahrhunderten entschieden hatte, sein Brigantentum zu legitimieren und es in geregelte Bahnen zu lenken. Er erklärte sein Einflußgebiet zum Ubarat, rief sich zu seinem Ubar aus und verlangte Steuern und Wegzölle. Interessanterweise wurde dieses Ubarat nach einiger Zeit von einigen Städten diplomatisch anerkannt, denen im Gegenzug dann Steuern und Zölle ermäßigt wurden. Schließlich machte ein großes Söldnerheer, das von der Kaufmannskaste bezahlt wurde, der Pseudoherrschaft des Clearchus ein Ende, vertrieb ihn in einem monatelang dauernden Feldzug aus dem Wald und zerstreute seine Männer in alle Himmelsrichtungen. Es herrscht allgemein die Auffassung, daß Clearchus, hätte er mehr Männer gehabt, möglicherweise einen neuen Staat gegründet hätte.
Es ist ungewiß, wie es mit Clearchus weitergegangen ist, aber einige Historiker setzten ihn mit Clearchus von Durra gleich, einem Einwanderer, der sich mit einigen seiner Anhänger in Durra niederließ. Heute erinnert man sich an ihn hauptsächlich als Patron der Künste und Philanthropen. Der Clearchuswald wird bis zum heutigen Tage von Straßenräubern heimgesucht.
In der Vergangenheit nannte man die Straße des Clearchus oft ›Weststraße‹. Diese Bezeichnung war nach der erst kürzlich erfolgten Inbetriebnahme der Straße des Cyprianus nicht mehr ganz richtig. Daher ist es nicht ungewöhnlich, daß die Straße des Clearchus ›alte Weststraße‹ und die Straße des Cyprianus ›neue Weststraße‹ genannt wird. Übrigens gehören beide Straßen nicht zur Kategorie der ›Großen Straßen‹; ihr Fundament liegt nicht mehrere Meter tief in der Erde, so daß sie wie eine versenkte Wand auf Stein gebaut sind. Es sind keine Straßen, die oftmals tausend Jahre halten sollen und die man typischerweise in der Nähe großer Städte findet; die Art von Straßen, die zum Aufmarsch dienen sollen und direkt in das Herz traditionell umstrittener Territorien führen oder strategisch wichtige Punkte miteinander verbinden. Sowohl die ›alte‹ als auch die ›neue‹ Weststraße sind Straßen der zweiten Kategorie, die im allgemeinen nur über ein Schotterbett verfügen; gelegentlich sind sie mit Materialien wie Holzblöcken und Steinfliesen gepflastert. Bei Regen sind sie oftmals unpassierbar, und bei trockenem warmen Wetter sind sie meistens sehr staubig. Straßen der dritten Kategorie sind häufig nur selten benutzte Pfade. Es ist immer wieder die Rede davon, die Straßen der zweiten Kategorie zu verbessern, und manchmal geschieht es sogar, aber im allgemeinen wird nur wenig zustande gebracht. Das liegt natürlich hauptsächlich am Geld. Zu viele Straßen verlaufen für den größten Teil ihrer Länge außerhalb der Rechtsprechung der betreffenden Städte. In goreanischen Städten hängt die Macht von der Macht des Heimsteins ab, die durch den aktuellen Stand militärischer und wirtschaftlicher Erfolge meistens Schwankungen unterworfen ist. Die Vorstellung von einer feststehenden und endgültigen Grenze ist auf Gor nicht besonders weit verbreitet.
»Ich verstehe«, sagte Yanina.
»Triff mich dort morgen abend mit dem Material«, sagte der Fremde. »Zur fünfzehnten Ahn.«
Sie hob geziert den Schleier und trank dahinter Kala-na. »Das ist ziemlich früh. Die Zeit erscheint mir unpassend.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Ich muß mich vorbereiten, muß das Material ordnen. Ich habe viel zu tun.«
»Welche Zeit würde dir passen?« fragte er mit spöttischer Nachsicht.
»Das kann ich noch nicht sagen«, meinte sie. »Ich bin eine vielbeschäftigte Frau.«
»Du weißt, wo ich während des Jahrmarkts wohne?«
»Ja.«
»Dann sei doch so nett, mir eine Nachricht zukommen zu lassen, wann du es für angemessen hältst, diese dringende Angelegenheit zu erledigen.«
»Natürlich.«
Der Fremde stand verärgert auf. Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging mit wirbelndem Umhang und weitausholenden Schritten auf sein Tharlarion zu. Einen Moment später brachen er und seine Männer auf.
»Ich habe es ihm gezeigt, nicht wahr, Brinlar?« fragte Yanina, als sie ihm nachsah.
»Ja, Herrin«, sagte ich.
»Ich werde ihn so lange warten lassen, wie es mir gefällt.«
»Ja, Herrin.«
»Ich werde dafür sorgen, daß er endlich begreift, wie wichtig ich bin.«
»Ja, Herrin.« Ich war zu dem Schluß gekommen, daß sie tatsächlich in gewisser Weise eine wichtige Person sein mußte, denn der Fremde hatte ihr nicht die Kleider vom Leib gerissen und sie fortgeführt, mit Handfesseln an den Steigbügel gekettet.
»Es ist etwas kühl geworden, Brinlar«, sagte sie. »Du darfst mir den Umhang bringen.«
»Ja, Herrin.« Ich legte ihr den leichten Umhang über die Schultern, und sie band die Schnur unter dem Schleier am Hals zusammen. Ich beherrschte mich und verzichtete darauf, ihr den Umhang von hinten über den Kopf zu werfen, ihn an ihrer Taille festzubinden und ihr auf diese Weise Arme und Hände zu fesseln.
»Wir kehren ins Lager zurück«, befahl sie. »Du darfst zusammenpacken.«
»Ja, Herrin«, sagte ich, kniete neben ihren Füßen nieder und packte die Dinge in den Korb.
»Darf ich sprechen, Herrin?« fragte ich.
»Natürlich, Brinlar.«
»Der kürzlich geführten Unterhaltung entnehme ich, daß die Leute eurer Gruppe – wer auch immer das sein mag – Interesse an dem Mann namens Bosk aus Port Kar haben.«
»Vielleicht«, sagte sie.
»Ich weiß, wie er aussieht«, sagte ich.
»Ja?« fragte sie, plötzlich hellwach.
»Außerdem habe ich Grund zu der Annahme, daß er sich in diesem Augenblick auf dem Jahrmarkt oder zumindest in seiner Nähe aufhält.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe so ein Gefühl«, sagte ich. »Vielleicht gründet es sich auf etwas, das ich in Port Kar gehört habe. Wie dem auch sei, er stattet dem Jahrmarkt manchmal einen Besuch ab.«
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte sie. »Bist du in der Lage, ihn für uns ausfindig zu machen?«
»Das dürfte nicht schwierig sein.«
»Heb den Kopf, Brinlar!« befahl sie.
Ich gehorchte und blickte Lady Yanina in die Augen. Es war deutlich zu sehen, wie ihre Gedanken rasten.
»Morgen wirst du unter Bewachung auf den Jahrmarkt gehen. Wenn du diesen Bosk siehst, sagst du meinen Männern Bescheid.«
»Aber ich kenne ihn«, sagte ich. »Könnte er nicht mißtrauisch werden, wenn er mich unter Bewachung sieht? Falls du ihn außerdem in einen Hinterhalt locken willst, kannst du das unmöglich auf dem Jahrmarkt tun. Das ist neutraler Boden, dort darf es keine Händel geben. Und was ist, wenn er in Begleitung seiner Gefolgsleute erscheint?«