Es gibt viele solcher Bräuche – das Tragen eines Tarnstachels in Verbindung mit einem bestimmten Herumgehopse auf der Bühne symbolisiert einen Tarnritt; benutzt man einen Kaiilastachel, reitet man auf einem Kaiila; ein Ast auf der Bühne ist ein Wald, ein paar Steine eine Stadt. Steht der Held auf einer Kiste oder einem kleinen Tisch, wird damit dargestellt, daß er von einem Berggipfel oder den Zinnen der Stadtmauer hinunterschaut; ein bißchen Konfetti ist ein Schneesturm, der Gang über die Bühne eine lange Reise von tausend Pasang; ein paar gekreuzte Stangen mit einem daranhängenden Stück Seidenstoff deutet auf einen Thronsaal oder das Zelt eines Generals hin. Die hinter dem General hergetragene Flagge ist ein Hinweis, daß ihm tausend Mann folgen; ein schwarzer Umhang bedeutet, daß die Figur unsichtbar ist, und dergleichen mehr.
»Bist du wirklich frei?« fragte Boots Tarskstück seine Brigella mit übertriebener Ungläubigkeit.
»Ja!« rief sie und hielt sich den Rocksaum vors Gesicht, um ihn als Schleier zu benutzen. Es gab erneut Gelächter, das zweifellos nicht allein von der Absurdität der Situation hervorgerufen wurde, sondern auch von der Widersinnigkeit, daß eine so eindeutige Sklavin wie die Brigella derartiges behauptete.
Boots stapfte über die Bühne, als wolle er eine günstigere Stellung einnehmen.
»Tal, Kaufmann«, sagte sie.
»Tal, Lady Phoebe«, sagte er.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie.
»Ich würde sagen, alles ist in Ordnung«, erwiderte er.
»Hast du noch nie zuvor eine freie Frau gesehen?« fragte sie.
»Diese Farce ist eine Beleidigung für alle freien Frauen!« rief die Schriftgelehrte im Publikum.
»Hast du noch nie zuvor eine freie Frau gesehen?« wiederholte Brigella, die heute einmal in eine andere Rolle geschlüpft war, ihren Satz.
»Für gewöhnlich sehe ich nicht soviel von ihnen«, gab Boots zu.
»Ich verstehe«, sagte Brigella.
»Nicht annähernd soviel«, sagte Boots.
»Das ist beleidigend!« rief die freie Frau.
»Aber ich nehme an, ich sehe mehr von dir als die meisten«, sagte Boots.
»Das ist beleidigend!« rief die freie Frau.
»Bist du entsetzt, daß ich dich auf so unschickliche Weise empfange?« wollte Brigella wissen.
»Ich wäre erfreut, hättest du die Absicht, mich zu empfangen, ob nun schicklich oder unschicklich.«
»Welche Lady könnte sich anders verhalten?«
»In der Tat!« rief Boots begeistert.
»Ich spreche natürlich davon, daß ich mich dafür entschuldigen will, mich so hastig zu verschleiern, mußte ich doch auf die Dinge zurückgreifen, die gerade bei der Hand waren.«
»Ich will dich nicht tadeln«, versicherte Boots ihr.
»Dann denkst du nicht schlecht von mir?«
»Nein, ich bewundere dich! Ich bewundere dich!« sagte er und bewunderte sie.
»Und so zeigen wir freien Frauen den Männern unsere Sittsamkeit«, verkündete Brigella.
»Und das ist eine wirklich schöne Sittsamkeit«, bestätigte Boots voller Bewunderung.
»Oh!« rief Brigella plötzlich aus, als sei sie peinlich berührt, ging in die Hocke und zog den Rocksaum bis zu den Knöcheln.
»Ich dachte, du seist eine freie Frau«, sagte Boots.
»Das bin ich auch!« rief Brigella.
»Und dann präsentierst du dich einem fremden Mann mit entblößtem Gesicht?«
»Oh!« stieß sie entsetzt hervor, sprang wieder auf, riß den Rock hoch und benutzte ihn erneut, um die Gesichtszüge zu verbergen.
»Ah!« rief Boots anerkennend.
»Oh!« rief sie gequält und zog entsetzt den Rock nach unten.
»Ein nacktes Gesicht!« rief Boots empört
Der Rock flog in die Höhe.
»Ah!« rief Boots.
Der Rock sauste nach unten.
»Ein nacktes Gesicht!« sagte Boots tadelnd.
»Was soll ein armes Mädchen nur tun?« rief Brigella.
Der Rocksaum, den sie in den kleinen Händen hielt, während sie vor Not und Verzweiflung jammerte, fuhr in die Höhe und wieder hinunter, bis sie ihn zwischen Brust und Hals hielt. Auf diese Weise verhüllte er zum Vergnügen der meisten Zuschauer weder ihre ›Sittsamkeit‹ noch ihr Gesicht.
Um den Sinn der Szene zu verstehen, muß man wissen, daß in der goreanischen Gesellschaft die öffentliche Zurschaustellung des Gesichts einer freien Frau – vor allem einer hochgestellten Persönlichkeit – als ernstes Vergehen betrachtet wird. In manchen Städten muß eine unverschleierte freie Frau damit rechnen, von den Ordnungshütern in Gewahrsam genommen zu werden. Dort erhält sie einen Schleier, falls nötig mit Gewalt, und wird dann in aller Öffentlichkeit zu ihrem Haus zurückgebracht. In einigen Städten schreibt der Brauch sogar vor, daß sie bis auf den Gesichtsschleier nackt gehen muß. In solchen Fällen folgt ihr für gewöhnlich eine Menschenmenge, die sehen will, zu welchem Haus sie zurückgebracht wird. Bei mehreren Verstößen dieser Art macht man die Übeltäterin normalerweise zur Sklavin. Natürlich werden derartig drastische Maßnahmen nur selten gebraucht, um solche allgemeingültigen Sitten aufrechtzuerhalten.
Gesellschaftlicher Druck trägt ebenfalls zur Aufrechterhaltung dieser Sitten, bei. So kann es unverschleierten Frauen zum Beispiel widerfahren, daß sich auf dem Markt andere Frauen mit Gesten des Abscheus von ihr abwenden. Es kann ihr widerfahren, daß eine freie Frau sie nicht bedient, bevor sie niederkniet. Es wäre nicht ungewöhnlich, daß sie an einem bevölkerten Ort hämisch geflüsterte Bemerkungen wie »Schamlose Schlampe« oder »Schamlos wie eine Sklavin« oder »Legt ihr einen Kragen an!« zu hören bekommt. Und sollte sie dann versuchen, die Spötter zur Rede zu stellen, kann sie davon ausgehen, daß man ihr derartige Dinge offen ins Gesicht sagt.
Sklavinnen ist das Tragen eines Schleiers verboten. Ihre Gesichter bleiben unverhüllt und dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt. So können Männer sie immer ansehen, wenn sie Lust dazu haben.
»Was soll ich tun?« wandte sich die wunderschöne Brigella dem Publikum zu, den Rocksaum in Höhe des Halses haltend. Ihre schön geschwungenen Lippen waren geschürzt. Scheinbar stand sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Wie verzweifelt sie war, wie entsetzt über ihre aussichtlose Lage.
»Knie nieder!« rief ein Mann.
»Zieh dich ganz aus!« rief ein anderer.
»Sklavin!« sagte die Schriftgelehrte kalt und gebieterisch, und es war eindeutig, daß sie Brigella ansprach.
»Herrin!« erwiderte das Mädchen sofort ängstlich, vergaß seine Rolle und kniete nieder. Eine freie Frau hatte sie angesprochen.
»Den Kopf auf die Bretter!« fauchte die Schriftgelehrte.
Das Mädchen gehorchte augenblicklich. Sie zitterte in dem Wissen, daß sie freien Menschen völlig ausgeliefert war.
»Bist du der Besitzer dieser Sklavin?« wandte sich die Frau an Boots Tarskstück.
»Ja, Lady«, antwortete er.
»Dann laß sie auspeitschen.«
»Ein möglicherweise ausgezeichneter Vorschlag«, sagte der Theaterdirektor. »Aber gibt es einen bestimmten Grund?«
»Mir gefällt ihre Schauspielkunst nicht«, erklärte die Schriftgelehrte.
»Es ist schwierig, es allen recht zu machen«, gab Boots zu. »Aber ich versichere dir, sollte ich, ihr Herr, mit ihrer Darstellung nicht zufrieden sein, werde ich sie höchstpersönlich binden und dafür sorgen, daß sie ordentlich ausgepeitscht wird.«
»Ich finde ihre Rolle widerlich«, sagte die Frau.
»Ja, Lady.«
»Und ich halte sie für eine Beleidigung aller freien Frauen!«
»Ja, Lady.«
»Wir wollen den Rest der Vorstellung sehen«, sagte ein Mann.
»Also peitsche sie!« verlangte die freie Frau.
»Ich sehe dafür aber keinen Grund«, sagte Boots. »Sie tut genau das, was sie tun soll. Sie ist gehorsam. Wäre sie ungehorsam, wäre das etwas anderes, aber so…«