Boots hielt den vermeintlichen Schleier in die Höhe, drehte ihn um und führte ihn allen vor.
»Hast du je etwas so Schönes gesehen?« fragte er.
»Nein!«
»Er ist so leicht, das man ihn kaum fühlen kann. Es heißt, daß Sklaven ihn sogar überhaupt nicht fühlen können.«
»Ich muß ihn haben!«
»Er ist aber schrecklich teuer«, warnte Boots das Mädchen.
»Oh, weh mir!« rief sie.
»Nennst du zehntausend Goldstücke dein eigen?«
»Nein!« rief sie. »Ich bin ein armes Mädchen, das nicht einmal ein Tarskstück besitzt.«
»Tja, dann…«, sagte Boots düster und tat so, als falte er den Schleier wieder zusammen. Dabei bot er eine geschickte Pantomime. »Ich hatte so gehofft, einen Verkauf zu tätigen.«
»Könntest du mir nicht ein kleines Stück abschneiden?« fragte sie.
»Ein Stück im Wert für tausend Goldstücke?«
»O weh«, schluchzte sie. »Ich kann mir nicht einmal das leisten.«
»Nun ja«, sagte Boots. »Der Schleier ist ziemlich groß, er bietet genug Stoff, um einen ganzen Körper zu verhüllen.«
»Das sehe ich.«
»Es ist den Magiern von Anango verboten, nur halbe Arbeit zu leisten.«
»Das weiß jeder.«
»Wie dem auch sei, du wärst sicherlich nicht so gemein, so herzlos und gefühllos sein, mir vorzuschlagen, ein so wunderbares Tuch mit der Schere zu bearbeiten, diesem schrecklichen, unbeholfenen Instrument.«
»Nein!« rief sie aus.
»Ich wünsche dir alles Gute, Lady«, sagte Boots traurig und tat so, als wollte er den Schleier wieder in seinen Rucksack packen.
»Ich muß ihn haben!«
»So?« fragte Boots.
»Ich werde alles tun, um ihn zu bekommen!«
»Alles?« fragte Boots hoffnungsvoll.
»Alles!«
»Vielleicht…«, sagte Boots nachdenklich.
»Ja? Was?«
»Nein. Es ist undenkbar!«
»Was denn?« bettelte sie begierig.
»Es ist undenkbar!« verkündete Boots.
»Was denn?« drängte sie ihn.
»Denn du bist eine freie Frau.«
»Was?«
»Es ist allgemein bekannt, daß Männer Bedürfnisse haben«, sagte er. »Sie sind von tierhafter Lust getrieben.«
»Ich frage mich, was er vorhat«, sagte das Mädchen, ans Publikum gewandt.
»Und ich bin schon lange unterwegs«, fuhr er fort.
»Ich werde mißtrauisch«, sagte sie.
»Und ich weiß, daß du eine freie Frau bist.«
»Mein Mißtrauen wird mit jedem Augenblick größer.«
»Und daß die Schönheit einer freien Frau ein gar unbezahlbares Gut ist.«
»Meine Gedanken rasen«, ließ sie die Zuschauer wissen. Alles lachte. Auf gewisse Weise entsprach das, was Boots da gesagt hatte, der Wahrheit. Die Schönheit einer freien Frau war ein unbezahlbares Gut. Nicht etwa deshalb, weil sie etwas Besonderes darstellte, sondern weil sie nicht zu kaufen war.
»Und so frage ich mich«, sagte Boots, »ob ich im Tausch gegen diesen wunderbaren Schleier einen winzigen Blick auf deine unbezahlbare Schönheit erhaschen darf.«
»Es ist noch schlimmer, als ich gedacht habe!« rief Brigella entsetzt dem Publikum zu.
»Vergib mir, meine Dame!« rief Boots erschrocken über die Ungeheuerlichkeit dessen, was er gerade vorgeschlagen hatte.
»Und doch wünsche ich mir von ganzem Herzen, den Schleier zu besitzen«, erzählte das Mädchen dem Publikum.
»Ich muß weiterziehen«, verkündete Boots enttäuscht.
»Bleibt, edler Kaufmann. Nur noch einen kurzen Augenblick«, sagte sie.
»Ja?«
»Würde ein Blick auf ein Handgelenk oder einen Knöchel reichen?«
»Ich zögere, euch das zu sagen«, sagte Boots, »aber vielleicht habt ihr noch nicht bemerkt daß ihr weder Hosen noch Handschuhe tragt. Solche kecken Blicke habe ich bereits genommen.«
»Da meine Schönheit die einer freien Frau ist, ist sie doch unbezahlbar, nicht wahr?« fragte sie.
»Natürlich.«
»Und einmal angenommen, du gibst mir für einen flüchtigen Blick die zehntausend Goldstücke, die du erwähnt hast, natürlich als bloße Geste der Dankbarkeit da die Dinge, um die es hier geht, nicht mit Geld zu bezahlen sind – und den Schleier obendrein…«
»Deine Großzügigkeit ist überwältigend!« rief Boots. »Hätte ich die zehntausend Goldstücke, gäbe ich sie zweifellos begeistert für solch einen Blick her, aber ich besitze keine zehntausend Goldstücke!« Boots wandte sich dem Publikum zu. »So nahe dran«, sagte er, »und doch so weit vom Ziel entfernt!«
Die Menge brach in Gelächter aus.
Lady Telitsia wandte sich mir zu. »Das war ein überzeugend gesprochener Satz.«
Ich nickte.
»Kannst du denn den Schleier sehen?« wollte einer der Männer von ihr wissen.
»Aber natürlich«, sagte sie. Diese Frau war schlagfertig; sie war nicht in seine Falle getappt. Die Männer lachten. Wie ich bemerkte, hatte Boots dieses kleine Wortgefecht von der Bühne aus verfolgt.
»Dann neuntausend Goldstücke«, rief Brigella.
Boots wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu.
»Achttausend?« fragte sie hoffnungsvoll.
Boots schüttelte den magischen Schleier mit einer großartigen Geste aus und präsentierte ihn schamlos, um das Mädchen mit seiner Pracht zu beeindrucken.
»O wie wunderbar er doch ist! Ich muß ihn haben«, jammerte Brigella ans Publikum gewandt. »Was soll ich nur tun?«
Aus dem Publikum kamen viele Vorschläge, die nicht alle unbedingt geschmackvoll waren. Beim volkstümlichen goreanischen Theater ist die Beteiligung der Zuschauer eine ganz normale Sache. Sie ist höchst willkommen. Eine Farce ist etwas, dem die Schauspieler und das Publikum gemeinsam Leben einhauchen. Sie arbeiten zusammen, um die Theatererfahrung überhaupt erst zustande kommen zu lassen. Ist die Darbietung schlecht, wird das Publikum die Schauspieler es wissen lassen. Manchmal wird ein Stück ausgebuht und muß dann schnell von einem anderen ersetzt werden. Es ist nicht ungewöhnlich, daß es im Publikum zwischen jenen, die von der Darbietung angetan sind, und jenen, die sie schrecklich finden, zu handfesten Prügeleien kommt. Genauso wie es nicht ungewöhnlich ist, daß die Bühne mit Apfelkernen und allem möglichen Abfall übersät ist, der mit oder ohne Erfolg als Wurfgeschoß diente. Es ist sogar schon vorgekommen, daß ein Schauspieler von einem solchen Geschoß bewußtlos geschlagen wird. Ich beneide den Schauspieler nicht um seinen Beruf. Meine eigene Kaste, die Kriegerkaste, ist mir wesentlich lieber.
»Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte Boots.
»Aber natürlich, edler Kaufmann«, rief Brigella, als heiße sie jede Lösung ihres Konflikts willkommen.
»Zieh dich an einem abgeschiedenen Ort aus, dabei
überdenkst du die Angelegenheit. Wenn du dich dann
in deiner Erhabenheit entscheidest, mir selbst den winzigsten aller Blicke zu verweigern, welcher Schaden
könnte dann entstanden sein?«
»Ein großartiger Vorschlag«, sagte sie. »Aber wo auf dieser schönen Wiese neben der Landstraße soll ich die nötige Abgeschiedenheit finden?«
»Hier!« sagte Boots und hielt den Schleier hoch.
»Was?«
»Wie du siehst, ist er so undurchsichtig, wie er schön ist«
»Aber natürlich!«
»Und?«
»Halte den Schleier hoch«, sagte sie.
Boots gehorchte. »Entkleidest du dich?« fragte er.
Die Männer im Publikum gaben lautstark ihrem Beifall Ausdruck. Einige schlugen sich nach goreanischer Sitte heftig auf die linke Schulter.
»Ja«, rief Brigella.
Sie war wirklich hübsch.
»Das werde ich bei meiner Beschwerde dem zuständigen Magistrat gegenüber nicht vergessen«, sagte Lady Telitsia.
»Bist du jetzt völlig nackt?« fragte Boots, als könnte er sie tatsächlich nicht sehen.
»Gänzlich«, verkündete das Mädchen. »Hier stehe ich neben der Landstraße, so nackt wie eine Sklavin«, sagte sie zum Publikum gewandt, »und doch werde ich von diesem wunderbaren Schleier verhüllt.«
»Bist du wirklich nackt?« fragte Boots.
»Ja doch.«
»Aber wie soll ich wissen, daß du tatsächlich nackt bist?« fragte Boots und ließ die Blicke genüßlich über ihren Körper schweifen.