Nun standen wir auf einem kleinen Hügel, einige Pasang von den Mauern Brundisiums entfernt; es war kurz vor Mittag. Vor dem Fuß der Anhöhe hatten wir aus dem Boden aufsteigende Felsblöcke überklettern müssen. In dieser Gegend gab es viel Gestein, man hätte es mühelos abbauen können. Die Felsblöcke schienen den zerklüfteten Rand eines riesigen, uralten natürlichen Beckens zu bilden, den die Elemente hatten zerbröckeln lassen. Die Felsen mit ihren Durchgängen und Spalten umschlossen ein etwa zwei Pasang durchmessendes Gebiet. Nim Nim hatte auf meinen Schultern gesessen und mich an diesen Ort geführt. Jetzt sprang er zu Boden.
»Nim Nim in Sicherheit!« rief er und zeigte aufgeregt in das flache Tal vor uns. Dort unten tummelte sich das ›Volk‹, wie Nim Nim es nannte. Ich hatte noch nie eine so große Urtherde gesehen. Es waren mindestens vierbis fünftausend Tiere.
»Halt!« rief eine befehlsgewohnte Stimme.
Ich fuhr herum.
»Gute List! Gute List!« rief Nim Nim. »Nim Nim guter Urt! Keine Grube für Bosk! Schlimmer! Viel schlimmer! Nim Nim helfen! Nim Nim helfen!«
Ein unbehagliches Gefühl setzte sich in meiner Magengrube fest, und mir fielen wieder seine Worte in der Zelle ein. Ich hatte sie nicht sofort verstanden und war dann zu dem Schluß gekommen, daß mir der Urtmann bei der Flucht helfen wollte, wie es ja später auch den Anschein gehabt hatte. Jetzt begriff ich, daß Nim Nims Zellenverlegung kein Zufall gewesen war. Er hatte von Anfang an im Dienst meiner Feinde gestanden.
»Nim Nim helfen!« rief er fröhlich. »Nim Nim helfen! Nim Nim guter Urt! Nim Nim jetzt frei!«
»Knie nieder, Bosk aus Port Kar«, sagte Flaminius. Ich gehorchte. An Flaminius’ Seite standen der Gefängniswärter und seine Kameraden. Einige richteten Armbrüste auf mich. Viel gefährlicher war jedoch der Mann, der die Leinen von drei knurrenden Sleen in der Hand hielt.
»Es ist ein schöner Anblick, wie Bosk aus Port Kar nackt vor Männern aus Brundisium kniet«, sagte der Gefängniswärter.
»Kommst du aus Brundisium?« fragte ich Flaminius.
»Ich stehe in Diensten Brundisiums«, antwortete er. »Aber meine Heimatstadt ist Ar.«
Der Triumph in der Stimme des Gefängniswärters blieb mir unerklärlich. Brundisium war mit Ar verbündet, nicht mit Tyros oder Cos. Ich schätzte die Entfernung zwischen mir und dem Wärter ab. War es möglich, ihm das Genick zu brechen, bevor sich Armbrustbolzen in meinen Körper bohrten? Vermutlich nicht.
Flaminius’ Akzent erinnerte tatsächlich an Ar, jetzt, da ich darüber nachdachte. Solche Dinge lassen sich manchmal nur mühsam festlegen. Außerdem wies sein Akzent nicht sehr deutlich auf Ar hin; vermutlich lag sein letzter Besuch in dieser Stadt Jahre zurück.
»Ich dachte, du wolltest dich waschen«, sagte Flaminius mit einem Grinsen. »Statt dessen hat es den Anschein, als könntest du dringend ein Bad gebrauchen.«
Darauf gab ich ihm keine Antwort.
»Hat es dir Spaß gemacht, durch die schmutzigen Abwasserkanäle Brundisiums zu kriechen?«
Ich sagte kein Wort.
»Allerdings haben die frische Luft und die Sonne ohne jeden Zweifel einen Teil des Gestanks entfernt.«
Seine Begleiter lachten.
»Übrigens werden in diesem Augenblick die verschiedenen Gitter wieder repariert, die wir deinetwegen gelockert oder entfernt hatten; einige der Kanäle werden wieder schmaler gemacht.«
Ich sah ihn an.
»O ja«, meint er, »Das ist alles von langer Hand vorbereitet worden.«
»Wäre es nicht einfacher gewesen, mich im Gefängnis zu erschlagen?« fragte ich.
»Das schon«, antwortete Flaminius. »Aber es hätte weniger Spaß gemacht.«
»Ich verstehe.«
»Die Vergünstigungen in deiner Zelle, ihr Standort und so weiter sollten dich nervös machen und dich ermuntern, Fluchtpläne zu schmieden.«
»Ich glaube nicht, daß ich dazu ermuntert werden mußte.«
»Offensichtlich nicht«, sagte er. »Uns ist natürlich nicht entgangen, daß du dein Bettzeug nicht benutzt hast. Das war sehr schlau von dir. Ohne einen derartigen Gegenstand ist es natürlich viel schwieriger, einen Sleen auf deine Spur zu setzen.«
»Ich hatte angenommen, du würdest mich in die Grube stecken.«
»Genau das solltest du ja auch fürchten. Andererseits erschien es politisch unklug, Bosk aus Port Kar, einer Stadt, die Brundisium zumindest theoretisch neutral gegenübersteht, öffentlich in einer unserer Arenen töten zu lassen. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.«
»Das glaube ich auch«, sagte ich. Einige Männer Brundisiums wie beispielsweise die Gefängniswärter, ein paar Soldaten und Beamte kannten mich. Unter solchen Umständen wäre es schwergefallen, den Zuschauern eines derartigen öffentlichen Spektakels meinen Namen zu verheimlichen.
»Aus diesem Grund haben wir deine Flucht vorbereitet«, fuhr Flaminius fort. »Ohne ein Risiko einzugehen.«
»Kein Risiko?«
»Nein. Was glaubst du, wie wir dir so unauffällig folgen und dir einen Vorsprung von einer Ahn lassen konnten, bis wir dich zu unseren Bedingungen an diesem Ort stellen konnten?«
Ich sah zu der Urtherde im Tal hinunter. »Ich wurde absichtlich an diesen Ort gebracht.«
»Natürlich«, sagte Flaminius. »Aber selbst wenn du den Rat unseres kleinen Freundes hier in den Wind geschlagen hättest, hätten wir dich mühelos aufgespürt und dich dann hierhergebracht.«
»Die Sleen.«
»Genau«, sagte er, »Sieh her,« Er gab einem Mann, der neben dem Burschen mit den Sleen stand, ein Zeichen. Der zog die zerrissene Tunika, die ich in der Zelle getragen hatte, aus dem Sack.
»Sehr schlau.«
Die Wärter hatten Nim Nim und mich vor der Badezisterne gezwungen, uns nackt auszuziehen, was zu dieser Zeit völlig unverdächtig erschienen war. Jetzt begriff ich, daß es zu Flaminius’ Plan gehört hatte. Nachdem man hinter uns die Tür geschlossen hatte, hatten die Wärter meine Kleidung genommen und waren damit zu den Sleengehegen gegangen. Danach war es später nur noch nötig gewesen, außerhalb der Stadtmauern an einer der Kanalöffnungen unsere Spur aufzunehmen.
»Sieh her«, sagte Flaminius und grinste.
Der Mann hielt den Sleen meine Tunika hin. Sofort stürzten sie sich knurrend und voller Wut auf das Kleidungsstück und verbissen sich darin.
»Das reicht«, sagte Flaminius,
Der Mann brüllte die Sleen an, doch die Tiere ließen nicht los, und er mußte ihnen die Tunika mit Gewalt entreißen. Obwohl er ihr Führer war und sie zweifellos darauf trainiert waren, ihm und vermutlich ihm allein zu gehorchen, mußte er sich dabei ganz schön anstrengen.
Flaminius nahm ihm die Tunika ab und sah mich an. »Seht euch Bosk aus Port Kar an«, sagte er lachend. »Seht ihn, wie er nackt vor uns kniet, aus Angst zu einem Fluchtversuch verleitet, in dem Glauben gelassen, seine Flucht sei erfolgreich gewesen, nur um seine Hoffnungen zu vernichten. Jetzt begreift er, daß er uns niemals entkommen ist. Seht euch den dummen, überlisteten Narren an!«
Ich schwieg.
»Bist du neugierig, wie dein Schicksal aussehen wird?«
»Ja.«
Flaminius warf mir die Tunika zu, die er dem Sleenführer abgenommen hatte. Die Zähne der wütenden Sleen hatten nur noch Fetzen übriggelassen. »Zieh sie an«, befahl er. »Nein, steh nicht auf. Zieh sie auf den Knien über.«
Die Männer lachten, als ich mir auf den Knien die Fetzen über den Kopf zog. Die Sleen starrten mich gierig an.
»Wäre ein Schlag mit dem Schwert nicht schneller?« fragte ich.
»Das schon, aber nicht halb so vergnüglich«, sagte Flaminius.
»Vielleicht solltest du dann einen Schritt zurücktreten, damit du beim Angriff der Sleen nicht verletzt wirst«, schlug ich vor.
»Bleib auf den Knien«, warnte er mich.
»Ich bin ziemlich verwirrt, was einige Dinge betrifft«, sagte ich. »Vielleicht ist das hier der richtige Moment, um eine Erklärung zu verlangen. Darf ich also fragen, welches Interesse du oder deine Gruppe eigentlich an meiner Person haben? Warum zum Beispiel wurde der Bursche namens Babinius nach Port Kar entsandt, um mich zu töten? Aus welchem Grund ist das geschehen? Und warum wollte jemand in Brundisium, daß man mich gefangennimmt? Wer interessiert sich für mich – und vor allem: aus welchem Grund?«