»Du erhieltest gern von mir eine Antwort auf diese Fragen, nicht wahr?« fragte Flaminius.
»Ja.«
»Ich werde sie dir aber nicht beantworten.«
Ich ballte die Fäuste. Die Männer lachten.
»Aber du darfst nicht glauben, daß wir nicht zu großzügigen Gefälligkeiten fähig sind oder daß wir keine Gnade kennen.«
»Tatsächlich?«
»Wir sind bereit, dich dein Schicksal selbst wählen zu lassen«, sagte er. »Und wir sind dazu bereit, dir eine gewisse Zeit zuzugestehen, in der du dir über deine Wahl qualvoll den Kopf zerbrechen darfst.«
»Ich verstehe nicht.«
»Du hältst es doch sicherlich für keinen Zufall, daß wir unseren kleinen Freund hier in unsere Pläne mit eingeschlossen haben. Du hältst es doch sicherlich für keinen Zufall, daß du an diesen Ort gebracht worden bist.«
»Das wohl kaum«, erwiderte ich. Mir lief ein Schauder über den Rücken.
Nim Nim sprang schadenfroh auf und ab. »Nim Nim helfen. Nim Nim guter Urt!« quiekte er.
»Geh, kleiner Urt«, sagte Flaminius freundlich. »Lauf zu deinem Volk.«
»Nim Nim schlau«, rief er. »Nim Nim überlisten Bosk.«
»Eil in die Heimat, kleiner Urt«, sagte Flaminius freundlich.
Nim Nim sah mich mit seinen ovalen Augen an, die aus dem schmalen langen Gesicht blickten. »Schlimmer als Grube«, sagte er. »Schlimmer. Viel schlimmer. Nim Nim helfen. Nim Nim überlisten Bosk. Zu schade, Bosk!«
»Beeil dich«, drängte Flaminius.
Nim Nim hastete den grasigen Hügel hinunter und eilte dem riesigen Rudel Urts entgegen. Flaminius lachte. Einige der Männer taten es ihm nach. Es war ein häßliches Lachen.
»Du wirst dich jetzt auf den Knien langsam umdrehen«, sagte Flaminius. »Dann wirst du aufstehen und den Hügel hinuntergehen. Am Rand der Herde bleibst du stehen. Wir werden eine Zeitlang hier auf dem Hügel warten. Du wirst die ganze Zeit unter Beobachtung stehen. Solltest du den Versuch unternehmen, zur Seite zu laufen, um die Herde zu umgehen, werden wir sofort die Sleen von der Leine lassen. Du mußt in die Herde eindringen. Tust du das nicht, werden wir nach einiger Zeit die Sleen loslassen, und die werden sich auf dich stürzen, wo auch immer sie dich finden. Hast du das alles verstanden?«
»Ja.«
»Ich frage mich, was du wählen wirst«, sagte Flaminius.
»Ich wette, er wagt sich in das Rudel«, sagte einer der Männer.
»Ich wette, er wartet auf die Sleen«, sagte ein anderer Mann.
»Wir wollen dich in deiner Entscheidung nicht beeinflussen«, sagte Flaminius. »Aber wir haben in ähnlichen Situationen die Erfahrung gemacht, daß der Betroffene wartet, bis die Sleen ihn fast erreicht haben, und dann kopflos in das Rudel hineinläuft. Aber es wäre jedesmal besser gewesen, er hätte auf die Sleen gewartet.«
»Sleen sind schneller«, sagte der Sleenführer.
»Jedoch hat kaum einer den Mut, auf sie zu warten«, sagte der Gefängniswärter.
»Was wirst du tun, Bosk aus Port Kar?« fragte Flaminius.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Eine ausgezeichnete Antwort«, meinte Flaminius. »Viele Männer glauben, sie wissen, was sie tun werden, aber wenn der Augenblick kommt, dann entdecken sie, daß alles ganz anders als vermutet ist. Manchmal erfährt derjenige, der sich für einen mutigen Mann hält, daß er ein Feigling ist, und manchmal entdeckt der Feigling, daß er sehr mutig ist.«
Ich wandte mich langsam auf den Knien von ihm ab und stand dann ebenso langsam auf.
»Ganz langsam«, warnte Flaminius.
Ich ging den Hügel hinab, direkt auf die Urtherde zu. Nim Nim hatte sich noch nicht zwischen die Tiere gedrängt. Vermutlich wollte er sehen, wie ich mich entschied.
Ich blieb ein paar Meter vor dem Rudel stehen. Die meisten der Tiere schenkten mir keine Beachtung. Doch ein paar von ihnen betrachteten mich mißtrauisch. Natürlich achtete ich darauf, die kritische Entfernung nicht zu überschreiten. Ich sah zurück zum Hügel. Dort standen Flaminius und seine Leute mit den Sleen. Mir blieben bestimmt ein paar Ehn, bevor sie die Sleen von der Leine ließen. Meine Feinde erwarteten offensichtlich von mir, daß ich mir in dieser Zeit voller Angst den Kopf darüber zerbrach, welche Todesart ich wählen sollte. Es ist unnötig zu erwähnen, daß mir keine der beiden Alternativen besonders zusagte. Ich betrachtete das Rudel der Urts. Ich hatte noch nie eines von vergleichbarer Größe zu Gesicht bekommen. Es waren unzählige Tiere, und der Gestank war schier überwältigend. Von meinem Standpunkt aus erstreckte sich das Rudel auf jeder Seite eine Viertelpasang in die Länge. Bei dem Versuch, dorthin zu laufen, würde man zweifellos sofort die Sleen auf mich hetzen. Sie würden mich in wenigen Ihn erreicht haben.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Rudel. Es beanspruchte eine Fläche von zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Metern. Nicht einmal ein Sleen würde es schaffen, sich durch eine derart dichte Masse dieser bösartigen Kreaturen zu kämpfen. Auf keinen Fall. Ich strich über die Fetzen, die ich am Leib trug. Sleen sind unermüdliche Jäger und furchtlose, hartnäckige Verfolger, sehr hartnäckige Verfolger,
Ich blickte zu Nim Nim hinüber, der ein paar Meter von mir entfernt stand. Er war den Urts viel näher, offensichtlich dazu bereit, in dem Rudel unterzutauchen, sollte ich mich auf ihn zubewegen.
»Nim Nim sicher hier!« rief er. Er zeigte auf das Rudel. »Das Volk tut Nim Nim nichts Böses an!«
Ich fragte mich, ob sich in diesem Rudel noch andere Urtmenschen verbargen. Wenn dem so war, blieben sie versteckt. Natürlich verbringen sie nicht ihr ganzes Leben in einem Rudel, doch sie bleiben fast immer in seiner Nähe und verlassen es höchstens für kurze Zeit. Nim Nim hatte man in einem Obstgarten gefangengenommen.
»Bist du sicher, daß das hier dein Volk ist?« fragte ich mit einer gewissen Neugier. Für mich sah ein Urt wie das andere aus, obwohl es sicher möglich war, nach einer gewissen Zeit einzelne Tiere voneinander zu unterscheiden.
»Ja«, sagte Nim Nim stolz. »Dort ist…« (Er machte ein pfeifendes Geräusch.) »Und da hinten steht…« (Wieder erfolgte ein Pfeifen.) »Und das da ist unser Anführer.« Er zeigte auf ein großes Urt mit abgebrochenen Stoßzähnen und dunklem Fell, winzigen Augen und grauer Schnauze, das die sagenhafte Schulterhöhe von mindestens einen Meter zwanzig aufwies; es war ein für diese Gattung geradezu riesiges Exemplar.
Ich zweifelte keinen Augenblick lang, daß Nim Nun wußte, wovon er sprach. Dies war sein Rudel. Da bestand kein Zweifel.
»Das Volk reißt Bosk in Stücke!« rief Nim Nim. »Das Volk tut Nim Nim nichts an! Nim Nim gehört zum Volk! Nim Nim sicher!«
Ich sah zum Hügel. Die Sleen lagen noch an der Leine.
»Nim Nim Bosk überlistet!« sagte der Urtmann. »Nim Nim schlau! Nim Nim wieder frei! Nim Nim in Sicherheit!«
Ich fragte mich, woran es lag, daß sich die Urtmenschen in einem aus Tieren bestehenden Rudel frei bewegen konnten. Ich wußte, daß selbst Urts manchmal von ihren Artgenossen in Stücke gerissen wurden, wenn sie sich einem fremden Rudel näherten. Woher kam es dann, daß sich die Urtmenschen, bei denen es sich ja offensichtlich um Menschen oder doch zumindest um menschenähnliche Wesen handelte, ungestraft in ihrer Mitte bewegen konnten? Es ergab keinen Sinn. Aber es mußte eine Erklärung geben, eine erwiesene wissenschaftliche Erklärung. Vielleicht festigte irgend etwas die Stellung der Urtmenschen innerhalb des Rudels. Ich sah, wie der Rudelführer, den Nim Nim mir gezeigt hatte, mich ansah. Das Tier erweckte nicht den Eindruck, als könne es mich gut erkennen. Urts sind eher kurzsichtig. Es hob die Schnauze und schnüffelte in meine Richtung, Plötzlich stellten sich meine Nackenhaare auf. »Geh nicht zum Rudel!« rief ich Nim Nim zu. »Bleib stehen!«
»Bosk will Nim Nim weh tun!« rief er und trat einen Schritt an das Rudel heran.
»Geh nicht zum Rudel!« rief ich. »Ich bleibe hier stehen! Ich werde nicht näher kommen! Ich tue dir nichts! Bleib von dem Rudel weg!«